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Originaltitel: House Rules
Seitenzahl: 688 (Hardcover)
ISBN: 978-3431038415
Handlung:
Jacob Hunt hasst die Farbe Orange. Und er hasst es, wenn sein gewohnter Tagesablauf gestört wird. Routinen sind für ihn lebenswichtig, denn er leidet unter dem Asperger-Syndrom, einer autistischen Störung. Deshalb kocht Emma, seine Mutter, montags nur grüne Speisen und dienstags rote. Und längst hat sie Jacobs Besessenheit für Kriminaltechnik akzeptiert. Doch dann wird seine Erzieherin Jess erschlagen aufgefunden, und Jacob wird der Mordes an der jungen Frau verdächtigt.
Die mühsam erkämpfte "Normalität" in Emmas kleiner Familie bricht zusammen. Jacob muss sich vor Gericht verantworten. Alle Beweise sprechen gegen ihn. Doch Emma nimmt den Kampf auf. Denn es geht darum, ihren Sohn vor dem Gefängnis zu bewahren - und um die Rechte von Menschen, die anders sind.
Quelle: Verlagsangaben
Meine Meinung:
Jacob Hunt, ein 18-jähriger "Junge", der unter dem Asperger-Syndrom leidet, zeichnet sich besonders dadurch aus, dass er kaum zu sozialen Kontakten und "neurotypischer" Kommunikation fähig ist. Um diese Eigenschaften zu verbessern trifft er sich zweimal wöchentlich mit seiner Tutorin, Jess. Sie macht mit ihm verschiedene Übungen, um Jacob das Leben in einer Gesellschaft, die ihn nicht versteht und die auch er nicht versteht, zu erleichtern. Doch plötzlich verschwindet Jess - und Jacob muss sich wegen Mordes vor Gericht verantworten. Doch ist er wirklich dazu fähig?
Jodi Picoult zählt vor allem aus einem Grund zu meinen absoluten Lieblingsautoren: Die Realität ihrer Romane. Wie auch ihre vorangegangenen überzeugt "In den Augen der anderen" durch die Genauigkeit der Recherche und die Wahrheit der dargelegten Fakten. Jacobs Geschichte wirkt wie mitten aus dem Leben gegriffen.
In meinem Studium habe ich schon vieles über autistische Störungen wie das Asperger-Syndrom gelernt - und man merkt, dass Jodi Picoult sich eingehend mit dieser "Krankheit" beschäftigt hat. Eindrucksvoll schildert sie eine fiktive Geschichte mit durchaus realem Hintergrund - und das so detailliert, dass man am Ende zumindest die wichtigsten Aspekte kennt. Aber nicht nur im Bezug auf das Asperger-Syndrom hat sie genauestens recherchiert, auch die kriminologischen Hintergründe sind alle "richtig" und, was so schön ist, für Laien verständlich dargestellt. Wer schon mehrere ihrer Romane gelesen hat weiß außerdem, dass jede ihrer Geschichten vor Gericht endet, sodass man mit der Zeit wirklich viel über das (amerikanische) Rechtssystem lernen kann.
Was mir besonders bei diesem Buch aufgefallen ist, sind die vielen Parallelen zu anderen Büchern - von anderen Autoren. So vor allem die realen Schauplätze ("In den Augen der anderen" spielt im selben Ort, der auch in "Die Blutlinie" oder "Der Todeskünstler" eine Rolle spielt) wie Vermont oder die "Body Farm" (die vor allem Lesern von Simon Becketts Hunter-Reihe ein Begriff sein dürfte).
Aber natürlich lese ich Picoults Bücher nicht nur auf Grund der Genauigkeit und Autenzität ihrer Geschichten, auch ihr Schreibstil und ihre Liebe für die handelnden Personen erfreut mich immer wieder. Da ich alle ihre Bücher, die bisher auf Deutsch erschienen sind, gelesen habe, habe ich auch gemerkt, wie sich ihr Schreibstil entwickelt hat. Er wurde immer angenehmer, sie schafft es, den Leser vollkommen einzunehmen und in das Geschehen hineinzuziehen. Besonders an diesem Buch ist, dass man als Leser direkt angesprochen wird. Man befindet sich gewissermaßen in der Position eines Geschworenen, dem die Geschehnisse aus den einzelnen Perspektiven der verschiedenen Personen dargelegt werden. Ich finde diese Idee gut, da man so erkennt, wie schwierig es ist, die "richtige" Entscheidung zu treffen, da jede Person immer wieder etwas berichtet, das die Empathie ständig wechseln lässt. Zudem finde ich, dass sie (besonders hier) auch den Personen entsprechend schreibt. So wird die Impulsivität Emmas im Gegensatz zur "Emotionslosigkeit" Jacobs auch durch ihre Art zu schreiben/berichten besonders verdeutlicht.
Die "Heldin" ist für mich jedoch ganz klar Emma, eine Mutter, die trotz aller Schwierigkeiten und Zweifel für ihren Sohn bzw. ihre Söhne kämpft - eine Eigenschaft, die ich mir für meine Zukunft nur wünschen kann.
Aber auch jede andere Charaktere hat ihre Macken und Eigenschaften, die sie, wie bereits erwähnt, immer wieder mehr oder weniger sympathisch erscheinen lassen.
In diesem Buch spielen Emotionen eine große Rolle und diese lässt die Autorin den Leser auch spüren. Da reihen sich Verzweiflung, Hoffnung, Wut und Trauer, Entsetzen und Freude aneinander - und das in einem solchen "Tempo", dass man Jacobs Probleme damit, die Emotionen anderer zu deuten, nur allzu gut nachvollziehen kann. Ich denke aber nicht, dass dies der Geschichte einen Abzug geben sollte, eher im Gegenteil: Ich finde es wichtig, in gewisser Weise mit einem "Buch" mitfühlen zu können!
Abgesehen vom Inhalt mag ich das Buch auch auf Grund der formalen Gestaltung. Jedes Kapitel beginnt mit der Darstellung eines Mordfalls, ein Einstieg, der in meinen Augen nicht gerade gewöhnlich ist, besonders zum Ende des Romans hin jedoch immer wieder einen Bezug zur Handlung darstellt, indem der Leser immer wieder daran erinnert wird, dass der Mord an Jess hier die zentrale Rolle spielt. Zudem ist jedes Kapitel aus der Sicht der verschiedenen Personen geschrieben - so gibt es Darstellungen aus der Sicht von Jacob, Emma, Theo, Rich und Oliver - was ich persönlich bei dieser Art von Geschichte immer wieder spannend finde. Zudem werden die einzelnen "Personen" noch dadurch voneinander abgegrenzt, dass jeder seine eigene Schriftart bekommt (was ich persönlich bisher noch in keinem Buch beobachten konnte).
Fazit:
"In den Augen der anderen" besticht vor allem durch die der Geschichte zu grunde liegende Liebe zum Detail - nicht nur im Bezug auf die handelnden Personen, sondern auch was die Fakten angeht.
Bis zuletzt stellt man sich die Frage, was denn nun wirklich geschehen ist - da man, vor allem im ersten Drittel, durch den Perspektivenwechsel nur episodische Handlungssequenzen erfährt. So bleibt einem lediglich eine Möglichkeit: Selbst Theorien aufstellen und diese entweder veri- oder falsifizieren lassen.
Jodi Picoults Schreibstil ist sehr angenehm und die Handlung zieht sich nicht dahin, sodass sich das Buch relativ schnell lesen lässt. Somit bekommt "In den Augen der anderen" von mir alles in allem 5 von 5 Sternen.
Dein Sohn ist des Mordes angeklagt. Deine Angst ist, er könnte es wirklich getan haben. Was würdest du tun?