Teil 6
Jane zog Christopher am Arm hinter sich her und er hatte, obwohl er sich für recht fit gehalten hatte, Schwierigkeiten, der Frau zu folgen. Seine gesamte Wahrnehmung war getrübt. Es war, als sähe er sich selbst als Unbeteiligter hinter dieser fremden Frau herlaufen. Seine Beine bewegten sich, doch er hatte nicht das Gefühl, als wären es seine.
Er stand unter Schock. Er hatte seinen Bruder wiedergefunden und trotzdem wieder verloren. Er hatte vollkommen versagt. Tränen trübten seinen Blick und mehr als einmal begann er zu straucheln.
"Jetzt nimm dich gefälligst zusammen!", fuhr Jane ihn an. "Wenn du Polizist bist, benimm dich verdammt noch mal wie ein Profi!"
Christopher spürte, wie sich eine unbändige Wut in seine Trauer mischte. Seine Umgebung schien wie aus einem Nebel wieder vor ihm aufzutauchen. Er biss die Zähne zusammen und bemühte sich, hinter der Fremden herzulaufen und nicht zurückzufallen. Er vertraute blind darauf, dass sie schon wusste, wohin sie sich wenden mussten, um ihren Verfolgern zu entkommen. Er konnte nicht ahnen, dass auch Jane vollkommen im Dunkeln tappte und einfach nur versuchte, Abstand zwischen sich und ihren Verfolgern zu gewinnen.
Christopher wusste nicht, wie lange sie schon durch die Gänge gelaufen waren, als sich plötzlich eine der Türen, die sie aufstießen, ins Freie öffnete.
Geblendet schlossen sie die Augen und schirmten sie mit den Händen gegen die Helligkeit ab. Sie befanden sich auf einem großen, mit Steinen gepflasterten Innenhof, auf dem einige Fahrzeuge standen. Ansonsten wirkte der Platz verlassen.
Jane lief zu einem der Wagen hinüber und versuchte, eine der Türen zu öffnen, doch sie waren fest verschlossen. Keuchend kam auch Christopher an dem Wagen an.
„Verdammt!“, schimpfte Jane. „Wir müssen hier weg und unsere Spur verwischen. Ich habe kaum noch Munition. Wenn sie uns noch folgen, sind wir geliefert.“
Christopher wischte sich mit dem Ärmel über die Augen, um den Blick frei zu bekommen. Seine Gedanken kreisten noch immer um James und das Bild des sterbenden Bruders hatte sich in sein Hirn gebrannt.
Jane sah ihren Begleiter an. Sie erkannte, dass er noch immer keine Hilfe darstellte. Sie musste ihn aus dieser Stimmung herausreißen, sonst waren sie verloren!
"Verdammt, jetzt reiß dich endlich zusammen, du Schlappschwanz! Willst du hier verrecken wie dein Bruder?"
Das war zu viel für Christopher. Mit einer fließenden Bewegung packte er Jane und drehte ihr den Arm auf den Rücken. Ihr Gesicht prallte gegen das Autodach und sie schrie vor Schmerz auf. Sie musste sich zwingen, sich nicht zu wehren, denn genau das hatte sie durch ihre Provokation erreichen wollen.
"Du verdammtes Aas hast ja überhaupt keine Ahnung!", brüllte er ihr ins Ohr. "Mein Bruder ist eben in meinen Armen gestorben! Und du wagst es, mich einen Schlappschwanz zu nennen, weil mir das nahe geht? Ich breche dir gleich deinen verdammten Arm!"
"Das kannst du gleich gerne tun", sagte Jane unter Schmerzen und stöhnte. "Aber erst einmal müssen wir hier weg, sonst knipsen sie uns beiden gleich das Licht aus."
Christopher hielt inne. Sein logisches Denkvermögen kehrte zurück. Er erkannte, dass diese Frau ihn absichtlich so provoziert hatte. Er ließ den Arm los.
Jane drehte sich zu ihm um und massierte sich ihre schmerzende Schulter. Gequält lächelte sie ihn an.
"Können wir dann machen, dass wir hier wegkommen? Ich habe nur keine Ahnung, wie man mit solchen prähistorischen Fahrzeugen umgeht."
"Aber ich", sagte Christopher. "Geh mal etwas zur Seite."
Er sah sich das Fahrzeug genauer an, zog dann seine Jacke aus und hielt sie schützend vor seinen Arm, als er mit dem Ellenbogen die Seitenscheibe des Wagens einschlug. Sofort heulte eine Alarmanlage auf.
„Du Idiot!“, rief Jane. „Jetzt finden sie uns sofort!“
Christopher kümmerte sich nicht darum und öffnete die Tür.
„Steig ein, wir müssen los“, sagte er. Jane verstummte, sah ihn prüfend an und stieg dann in den Wagen.
Neugierig betrachtete sie die für sie vollkommen fremdartigen Bedienelemente dieses Räderwagens. Christopher angelte in seiner Tasche nach einem kleinen Gegenstand, den er anschließend auf einen kleinen Kontakt auf dem Armaturenbrett drückte. Mit einem leisen Summen lief der Elektromotor an und der Alarm verstummte. Christopher setzte das Fahrzeug in Gang und steuerte es durch eine Einfahrt auf die Straße, wo er sich in den fließenden Verkehr einreihte.
Jane hatte ihn die ganze Zeit über angesehen.
"Ist alles in Ordnung?", fragte sie.
"In Ordnung?", fragte Christopher sarkastisch zurück. "Gar nichts ist in Ordnung! Oder waren Sie eben etwa nicht dabei?"
"So habe ich das nicht gemeint. Ich weiß genau, was Sie durchmachen. Es tut mir auch ehrlich leid, dass ich so ekelhaft zu Ihnen gewesen bin, aber ich hatte keine andere Wahl. Ich musste Sie irgendwie aus Ihrer Lethargie reißen, sonst wäre es aus gewesen." Sie massierte wieder ihren Arm. "Im übrigen können Sie ganz schön hart zufassen."
Christopher sah zur Seite und blickte in Janes lächelndes Gesicht. Irritiert wandte er seine Augen wieder der Straße zu.
"Tut mir leid, das wollte ich auch nicht", sagte er und schüttelte den Kopf.
„Ich glaube, wir sollten uns einmal unterhalten“, sagte sie dann.
„Das glaube ich allerdings auch, junge Frau“, antwortete Christopher. „Können Sie mir vielleicht verraten, was sich hier eigentlich abgespielt hat? Wer sind Sie überhaupt und was wollten Sie bei meinem Bruder?“
„Es tut mir wirklich leid mit Ihrem Bruder“, sagte sie noch einmal. „Haben Sie auch etwas mit diesen Zeitreisen zu tun?“
„Bevor ich Ihnen überhaupt etwas erzähle, will ich erst wissen, wer Sie sind“, beharrte Christopher.
„Waren wir nicht schon beim Du?“, fragte Jane. „Also, mein Name lautet Jane Link und ich kannte deinen Bruder bis vorhin überhaupt nicht.“
„Ich heiße Christopher O'Connell“, sagte Christopher gepresst. „Dafür, dass du meinen Bruder nicht kanntest, hast du allerdings eine Menge Staub aufgewirbelt, um ihm zu helfen. Ich will wissen, worum es geht – und am besten heute noch.“
Jane musste unwillkürlich grinsen. Das waren Töne, die sie kannte und mit denen sie umgehen konnte.
„Was grinst du so?“, fragte Christopher, als er es mit einem Seitenblick bemerkt hatte.
„Sind wir schon weit genug vom TimeHacker-Gebäude weg?“, fragte sie. „Dann solltest du irgendwo anhalten, damit wir in Ruhe reden können. Ich habe dir nämlich etwas zu erzählen, was dir vielleicht etwas abenteuerlich erscheinen wird.“
Christopher sah fragend zu ihr hinüber, doch sie machte keine Anstalten, weiterzureden. So bog er in eine Seitenstraße ein und parkte am Seitenstreifen der Fahrbahn.
„So, dann fang mal an, zu erzählen“, sagte er. „Ich bin gespannt.“
„Ich bin hier, um mit den Gründerinnen von TimeHacker zu sprechen“, sagte sie. „Genau genommen geht es darum, sie davon zu überzeugen, dass sie Timehacker.com niemals in Betrieb gehen lassen dürfen. Sie müssen ihre Forschungen unverzüglich einstellen.“
Christopher lachte leise.
„Von welcher Sekte kommst du denn? Ich habe schon viele Mitglieder von Sekten gesprochen, die gleich die Apokalypse befürchteten, wenn es zu Zeitreisen kommt. Ich kann dir versichern, dass das alles ausgemachter Unsinn ist. Ich weiß, wovon ich rede.“
Jetzt war es an Jane, verblüfft zu sein.
„Was soll das heißen, du weißt, wovon du redest? Hat TimeHacker.com etwa bereits jetzt aktiv in die Zeit eingegriffen?“
Christopher schüttelte den Kopf.
„Nein, das ist es nicht. Ich werde es dir sagen, auch, wenn du mir nicht glauben wirst. Ich bin Polizist, Jane. Aber ich bin kein Polizist dieser Zeit hier, sondern der Polizei des Jahres 2117. Für mich ist dies hier die Vergangenheit. Ich komme aus einer Zeit, in der Zeitreisen unter bestimmten Voraussetzungen an der Tagesordnung sind. Ich kann dir versichern, dass es nicht zur Apokalypse gekommen ist.“
Jane blickte ihn mit hochgezogenen Brauen an und begann dann laut zu lachen, was Christopher verärgerte.
„Was gibt es da zu lachen?“, fragte er säuerlich.
„Entschuldige, aber das ist einfach zu verrückt. Du kommst aus der Zukunft und bist Polizist? Ich kann dir verraten, dass die paar Jahre bis in dein Ursprungsjahr sicher nicht ausreichen, um die Zukunft der Welt zu ruinieren. Die Zeit bis zum Jahr 2345 reicht dann aber dafür wirklich aus. Ich muss es wissen, denn ich stamme von dort. Ich bin eine Agentin der Organisation PROTEC. Das ist eine Spezialeinheit der Polizei in meiner Zeit.“
Christopher hatte es die Sprache verschlagen. Immer wieder setzte er zum Sprechen an, doch jedes Mal schüttelte er den Kopf und brach ab.
„Wie es aussieht, sind wir zwei sehr weit von zu Hause weg“, sagte Jane. „Warum bist du hier?“
„Ich wollte meinen Bruder retten. Er war um diese Zeit herum verschwunden und ist nie wieder aufgetaucht. Ich wollte einfach da sein, wenn er mich braucht, um ihm zu helfen.“
"Das kann aber nicht wirklich dein Auftrag gewesen sein", wunderte sich Jane. "Hast du so viel Geld, dass du dir die Dienste von TimeHacker leisten kannst?"
„Natürlich nicht. Offiziell habe ich einen ganz anderen Auftrag, aber tatsächlich geht es mir nur um meinen Bruder. Leider habe ich versagt. Ich konnte ihm nicht helfen.“
Jane griff nach seiner Hand und drückte sie leicht.
„Es tut mir sehr leid – wirklich.“
„Und du?“, fragte Christopher. „Du willst sie davon überzeugen, keine Zeitreisen durchzuführen? Das ist dein Auftrag? Dann kommst du selbst ja auch nicht mehr zurück. Ist dir das klar?“
Sie nickte.
„Ich wusste, worauf ich mich einlasse.“
Sie griff in ihre Jackentasche und holte ihr EIP hervor.
„Das hier ist ein universeller Kleincomputer, wie wir ihn bei uns verwenden. Ich habe darauf die geschichtliche Entwicklung der vergangenen zwei Jahrhunderte gespeichert. Lies es dir durch. Schau dir die Videoclips an. Du wirst sehen, dass es zu immer haarsträubenderen Auswirkungen bei fortgesetzter Anwendung der Technologie gekommen ist. Das muss gleich an der Wurzel gestoppt werden. Die Forschungsunterlagen müssen vernichtet werden.“
Christopher blätterte eine Zeit lang in den Unterlagen herum, bis er das Gerät zur Seite legte.
„Ich gebe dir recht, dass es schrecklich ist, aber ich sehe keinen Zusammenhang mit den Zeitreisen. Vielleicht ist die dargestellte Entwicklung einfach unser Schicksal. Hast du dir das einmal überlegt?“
„Das haben wir über viele Jahre hinweg auch geglaubt“, sagte sie und griff nach dem EIP. „Deshalb solltest du diese Unterlagen, die direkt aus den Archiven von TimeJumper – wie die Firma bei uns heißt – kopiert wurden, anschauen.“
Christopher las weiter und wurde allmählich unruhig.
„Wenn das hier wirklich echt ist, dann wäre das eine Ungeheurlichkeit“, gab er zu.
„Nicht wenn und wäre! Das ist die Realität! Ich selbst habe diese Daten im Archiv der Firma ermittelt. Meinst du nicht, das wäre Grund genug, die Zeittechnologie zu vernichten – sie gar nicht erst entstehen zu lassen?“
Christopher sah sie an und überlegte. Dann traf er eine Entscheidung.
„Vermutlich hast du recht. Dann sollten wir das gemeinsam in Angriff nehmen, meinst du nicht?“
Jane lächelte.
„Ich hatte gehofft, dass du so denkst. Ich könnte deine Hilfe wirklich sehr gut gebrauchen.“ Sie reichte ihm die Hand und er ergriff sie. „Wie hast du das eigentlich vorhin mit dem Wagen hier gemacht?“, wollte sie wissen. „Was war das für ein Ding, mit dem du den Alarm abgeschaltet hast?“
Christopher hielt ein kleines Kärtchen hoch, das er an einem Schlüsselbund trug.
„Das hier? Das ist ein Universalschlüssel für Elektrofahrzeuge. Bei der Polizei hat bei uns jeder so ein Ding – für den Fall, dass man mal ein Fahrzeug benötigt. Glücklicherweise ist mein Key noch abwärtskompatibel zu den Fahrzeugen dieser Zeit, sonst hätten wir vorhin ein Problem gehabt. Aber wir sollten den Wagen stehen lassen und uns zu Fuß eine Bleibe für die Nacht suchen. Ich habe nicht vor, Bekanntschaft mit unseren Kollegen aus 2098 zu machen. Du etwa?“
Jane schüttelte den Kopf und stieg aus.
Niemand kümmerte sich um sie, als sie die Türen zuschlugen und den Wagen stehen ließen. Christopher grübelte und schwieg.
„Christopher?“
„Ja?“
„Warum bist du so schweigsam?“
„Mir schießt gerade durch den Kopf, dass ich vielleicht in der falschen Zeit bin, um meinen Bruder zu retten. Wenn ich nur noch ein Stück weiter in der Vergangenheit zurück gehen könnte, würde ich ihm helfen können.“
„Das ist ausgeschlossen!“, entrüstete sich Jane. „Jede Zeitreise produziert weitere Probleme in der Zukunft! Wir müssen endlich einen Schnitt ziehen. Du hast es doch in den Unterlagen selbst gesehen ...“
„Ja, aber angenommen, ich bekäme die Chance dazu … Man könnte doch auch dort noch die Zeitreiseforschung unterbinden. Wir könnten beide unsere Ziele erreichen.“
„Christopher, du kannst nicht jeden retten! Einmal muss ein Schnitt gezogen werden!“
„Verdammt noch mal, Jane! Kannst du es nicht verstehen? Es ist mein Bruder! Ich bin aus keinem anderen Grund hier! Seid ihr in eurer Zeit so gefühlskalt, dass ihr euch nicht um eure Leute kümmert?“
Janes Gesichtszüge wurden ernst. Lincoln schoss ihr durch den Kopf. Sie liebte ihn und trotzdem hatte sie sich auf diese Mission eingelassen. Sie überlegte, was sie im umgekehrten Fall getan hätte und musste sich eingestehen, dass sie ähnlich empfunden hätte.
„Du hast recht“, sagte sie leise. „Entschuldige. Trotzdem lass uns zunächst mit den Forscherinnen sprechen und sie überzeugen, ihre Forschungen fallen zu lassen. Je weniger Zeitreisen stattfinden, umso besser wird es sein.“
„Gut, dann lass es uns so machen, aber ich sage dir gleich, dass ich meinen Plan noch nicht aus den Augen verloren habe.“
Jane lächelte ihn an.
„Schade, dass du nicht in meiner Zeit lebst, Christopher. Ich denke, wir würden gut miteinander klar kommen. Du bist genauso zielgerichtet, wie ich es bin. Wie war das nun mit der Bleibe für die Nacht? Ich könnte eine Dusche vertragen und etwas zum Essen.“
Christopher lachte ebenfalls.
„Dann komm mal mit. In dieser Zeit gibt es überall kleine Hotels oder Pensionen, in denen man für wenig Geld übernachten kann. Ich habe sogar Geld dabei. Das ist der Vorteil, wenn man nicht aus einer ganz so fernen Zukunft stammt.“
Gemeinsam machten sie sich auf den Weg. Für beide war es beruhigend, jemanden an der Seite zu wissen, der verstand, worum es ging, und auf den man sich verlassen konnte.
Jane zog Christopher am Arm hinter sich her und er hatte, obwohl er sich für recht fit gehalten hatte, Schwierigkeiten, der Frau zu folgen. Seine gesamte Wahrnehmung war getrübt. Es war, als sähe er sich selbst als Unbeteiligter hinter dieser fremden Frau herlaufen. Seine Beine bewegten sich, doch er hatte nicht das Gefühl, als wären es seine.
Er stand unter Schock. Er hatte seinen Bruder wiedergefunden und trotzdem wieder verloren. Er hatte vollkommen versagt. Tränen trübten seinen Blick und mehr als einmal begann er zu straucheln.
"Jetzt nimm dich gefälligst zusammen!", fuhr Jane ihn an. "Wenn du Polizist bist, benimm dich verdammt noch mal wie ein Profi!"
Christopher spürte, wie sich eine unbändige Wut in seine Trauer mischte. Seine Umgebung schien wie aus einem Nebel wieder vor ihm aufzutauchen. Er biss die Zähne zusammen und bemühte sich, hinter der Fremden herzulaufen und nicht zurückzufallen. Er vertraute blind darauf, dass sie schon wusste, wohin sie sich wenden mussten, um ihren Verfolgern zu entkommen. Er konnte nicht ahnen, dass auch Jane vollkommen im Dunkeln tappte und einfach nur versuchte, Abstand zwischen sich und ihren Verfolgern zu gewinnen.
Christopher wusste nicht, wie lange sie schon durch die Gänge gelaufen waren, als sich plötzlich eine der Türen, die sie aufstießen, ins Freie öffnete.
Geblendet schlossen sie die Augen und schirmten sie mit den Händen gegen die Helligkeit ab. Sie befanden sich auf einem großen, mit Steinen gepflasterten Innenhof, auf dem einige Fahrzeuge standen. Ansonsten wirkte der Platz verlassen.
Jane lief zu einem der Wagen hinüber und versuchte, eine der Türen zu öffnen, doch sie waren fest verschlossen. Keuchend kam auch Christopher an dem Wagen an.
„Verdammt!“, schimpfte Jane. „Wir müssen hier weg und unsere Spur verwischen. Ich habe kaum noch Munition. Wenn sie uns noch folgen, sind wir geliefert.“
Christopher wischte sich mit dem Ärmel über die Augen, um den Blick frei zu bekommen. Seine Gedanken kreisten noch immer um James und das Bild des sterbenden Bruders hatte sich in sein Hirn gebrannt.
Jane sah ihren Begleiter an. Sie erkannte, dass er noch immer keine Hilfe darstellte. Sie musste ihn aus dieser Stimmung herausreißen, sonst waren sie verloren!
"Verdammt, jetzt reiß dich endlich zusammen, du Schlappschwanz! Willst du hier verrecken wie dein Bruder?"
Das war zu viel für Christopher. Mit einer fließenden Bewegung packte er Jane und drehte ihr den Arm auf den Rücken. Ihr Gesicht prallte gegen das Autodach und sie schrie vor Schmerz auf. Sie musste sich zwingen, sich nicht zu wehren, denn genau das hatte sie durch ihre Provokation erreichen wollen.
"Du verdammtes Aas hast ja überhaupt keine Ahnung!", brüllte er ihr ins Ohr. "Mein Bruder ist eben in meinen Armen gestorben! Und du wagst es, mich einen Schlappschwanz zu nennen, weil mir das nahe geht? Ich breche dir gleich deinen verdammten Arm!"
"Das kannst du gleich gerne tun", sagte Jane unter Schmerzen und stöhnte. "Aber erst einmal müssen wir hier weg, sonst knipsen sie uns beiden gleich das Licht aus."
Christopher hielt inne. Sein logisches Denkvermögen kehrte zurück. Er erkannte, dass diese Frau ihn absichtlich so provoziert hatte. Er ließ den Arm los.
Jane drehte sich zu ihm um und massierte sich ihre schmerzende Schulter. Gequält lächelte sie ihn an.
"Können wir dann machen, dass wir hier wegkommen? Ich habe nur keine Ahnung, wie man mit solchen prähistorischen Fahrzeugen umgeht."
"Aber ich", sagte Christopher. "Geh mal etwas zur Seite."
Er sah sich das Fahrzeug genauer an, zog dann seine Jacke aus und hielt sie schützend vor seinen Arm, als er mit dem Ellenbogen die Seitenscheibe des Wagens einschlug. Sofort heulte eine Alarmanlage auf.
„Du Idiot!“, rief Jane. „Jetzt finden sie uns sofort!“
Christopher kümmerte sich nicht darum und öffnete die Tür.
„Steig ein, wir müssen los“, sagte er. Jane verstummte, sah ihn prüfend an und stieg dann in den Wagen.
Neugierig betrachtete sie die für sie vollkommen fremdartigen Bedienelemente dieses Räderwagens. Christopher angelte in seiner Tasche nach einem kleinen Gegenstand, den er anschließend auf einen kleinen Kontakt auf dem Armaturenbrett drückte. Mit einem leisen Summen lief der Elektromotor an und der Alarm verstummte. Christopher setzte das Fahrzeug in Gang und steuerte es durch eine Einfahrt auf die Straße, wo er sich in den fließenden Verkehr einreihte.
Jane hatte ihn die ganze Zeit über angesehen.
"Ist alles in Ordnung?", fragte sie.
"In Ordnung?", fragte Christopher sarkastisch zurück. "Gar nichts ist in Ordnung! Oder waren Sie eben etwa nicht dabei?"
"So habe ich das nicht gemeint. Ich weiß genau, was Sie durchmachen. Es tut mir auch ehrlich leid, dass ich so ekelhaft zu Ihnen gewesen bin, aber ich hatte keine andere Wahl. Ich musste Sie irgendwie aus Ihrer Lethargie reißen, sonst wäre es aus gewesen." Sie massierte wieder ihren Arm. "Im übrigen können Sie ganz schön hart zufassen."
Christopher sah zur Seite und blickte in Janes lächelndes Gesicht. Irritiert wandte er seine Augen wieder der Straße zu.
"Tut mir leid, das wollte ich auch nicht", sagte er und schüttelte den Kopf.
„Ich glaube, wir sollten uns einmal unterhalten“, sagte sie dann.
„Das glaube ich allerdings auch, junge Frau“, antwortete Christopher. „Können Sie mir vielleicht verraten, was sich hier eigentlich abgespielt hat? Wer sind Sie überhaupt und was wollten Sie bei meinem Bruder?“
„Es tut mir wirklich leid mit Ihrem Bruder“, sagte sie noch einmal. „Haben Sie auch etwas mit diesen Zeitreisen zu tun?“
„Bevor ich Ihnen überhaupt etwas erzähle, will ich erst wissen, wer Sie sind“, beharrte Christopher.
„Waren wir nicht schon beim Du?“, fragte Jane. „Also, mein Name lautet Jane Link und ich kannte deinen Bruder bis vorhin überhaupt nicht.“
„Ich heiße Christopher O'Connell“, sagte Christopher gepresst. „Dafür, dass du meinen Bruder nicht kanntest, hast du allerdings eine Menge Staub aufgewirbelt, um ihm zu helfen. Ich will wissen, worum es geht – und am besten heute noch.“
Jane musste unwillkürlich grinsen. Das waren Töne, die sie kannte und mit denen sie umgehen konnte.
„Was grinst du so?“, fragte Christopher, als er es mit einem Seitenblick bemerkt hatte.
„Sind wir schon weit genug vom TimeHacker-Gebäude weg?“, fragte sie. „Dann solltest du irgendwo anhalten, damit wir in Ruhe reden können. Ich habe dir nämlich etwas zu erzählen, was dir vielleicht etwas abenteuerlich erscheinen wird.“
Christopher sah fragend zu ihr hinüber, doch sie machte keine Anstalten, weiterzureden. So bog er in eine Seitenstraße ein und parkte am Seitenstreifen der Fahrbahn.
„So, dann fang mal an, zu erzählen“, sagte er. „Ich bin gespannt.“
„Ich bin hier, um mit den Gründerinnen von TimeHacker zu sprechen“, sagte sie. „Genau genommen geht es darum, sie davon zu überzeugen, dass sie Timehacker.com niemals in Betrieb gehen lassen dürfen. Sie müssen ihre Forschungen unverzüglich einstellen.“
Christopher lachte leise.
„Von welcher Sekte kommst du denn? Ich habe schon viele Mitglieder von Sekten gesprochen, die gleich die Apokalypse befürchteten, wenn es zu Zeitreisen kommt. Ich kann dir versichern, dass das alles ausgemachter Unsinn ist. Ich weiß, wovon ich rede.“
Jetzt war es an Jane, verblüfft zu sein.
„Was soll das heißen, du weißt, wovon du redest? Hat TimeHacker.com etwa bereits jetzt aktiv in die Zeit eingegriffen?“
Christopher schüttelte den Kopf.
„Nein, das ist es nicht. Ich werde es dir sagen, auch, wenn du mir nicht glauben wirst. Ich bin Polizist, Jane. Aber ich bin kein Polizist dieser Zeit hier, sondern der Polizei des Jahres 2117. Für mich ist dies hier die Vergangenheit. Ich komme aus einer Zeit, in der Zeitreisen unter bestimmten Voraussetzungen an der Tagesordnung sind. Ich kann dir versichern, dass es nicht zur Apokalypse gekommen ist.“
Jane blickte ihn mit hochgezogenen Brauen an und begann dann laut zu lachen, was Christopher verärgerte.
„Was gibt es da zu lachen?“, fragte er säuerlich.
„Entschuldige, aber das ist einfach zu verrückt. Du kommst aus der Zukunft und bist Polizist? Ich kann dir verraten, dass die paar Jahre bis in dein Ursprungsjahr sicher nicht ausreichen, um die Zukunft der Welt zu ruinieren. Die Zeit bis zum Jahr 2345 reicht dann aber dafür wirklich aus. Ich muss es wissen, denn ich stamme von dort. Ich bin eine Agentin der Organisation PROTEC. Das ist eine Spezialeinheit der Polizei in meiner Zeit.“
Christopher hatte es die Sprache verschlagen. Immer wieder setzte er zum Sprechen an, doch jedes Mal schüttelte er den Kopf und brach ab.
„Wie es aussieht, sind wir zwei sehr weit von zu Hause weg“, sagte Jane. „Warum bist du hier?“
„Ich wollte meinen Bruder retten. Er war um diese Zeit herum verschwunden und ist nie wieder aufgetaucht. Ich wollte einfach da sein, wenn er mich braucht, um ihm zu helfen.“
"Das kann aber nicht wirklich dein Auftrag gewesen sein", wunderte sich Jane. "Hast du so viel Geld, dass du dir die Dienste von TimeHacker leisten kannst?"
„Natürlich nicht. Offiziell habe ich einen ganz anderen Auftrag, aber tatsächlich geht es mir nur um meinen Bruder. Leider habe ich versagt. Ich konnte ihm nicht helfen.“
Jane griff nach seiner Hand und drückte sie leicht.
„Es tut mir sehr leid – wirklich.“
„Und du?“, fragte Christopher. „Du willst sie davon überzeugen, keine Zeitreisen durchzuführen? Das ist dein Auftrag? Dann kommst du selbst ja auch nicht mehr zurück. Ist dir das klar?“
Sie nickte.
„Ich wusste, worauf ich mich einlasse.“
Sie griff in ihre Jackentasche und holte ihr EIP hervor.
„Das hier ist ein universeller Kleincomputer, wie wir ihn bei uns verwenden. Ich habe darauf die geschichtliche Entwicklung der vergangenen zwei Jahrhunderte gespeichert. Lies es dir durch. Schau dir die Videoclips an. Du wirst sehen, dass es zu immer haarsträubenderen Auswirkungen bei fortgesetzter Anwendung der Technologie gekommen ist. Das muss gleich an der Wurzel gestoppt werden. Die Forschungsunterlagen müssen vernichtet werden.“
Christopher blätterte eine Zeit lang in den Unterlagen herum, bis er das Gerät zur Seite legte.
„Ich gebe dir recht, dass es schrecklich ist, aber ich sehe keinen Zusammenhang mit den Zeitreisen. Vielleicht ist die dargestellte Entwicklung einfach unser Schicksal. Hast du dir das einmal überlegt?“
„Das haben wir über viele Jahre hinweg auch geglaubt“, sagte sie und griff nach dem EIP. „Deshalb solltest du diese Unterlagen, die direkt aus den Archiven von TimeJumper – wie die Firma bei uns heißt – kopiert wurden, anschauen.“
Christopher las weiter und wurde allmählich unruhig.
„Wenn das hier wirklich echt ist, dann wäre das eine Ungeheurlichkeit“, gab er zu.
„Nicht wenn und wäre! Das ist die Realität! Ich selbst habe diese Daten im Archiv der Firma ermittelt. Meinst du nicht, das wäre Grund genug, die Zeittechnologie zu vernichten – sie gar nicht erst entstehen zu lassen?“
Christopher sah sie an und überlegte. Dann traf er eine Entscheidung.
„Vermutlich hast du recht. Dann sollten wir das gemeinsam in Angriff nehmen, meinst du nicht?“
Jane lächelte.
„Ich hatte gehofft, dass du so denkst. Ich könnte deine Hilfe wirklich sehr gut gebrauchen.“ Sie reichte ihm die Hand und er ergriff sie. „Wie hast du das eigentlich vorhin mit dem Wagen hier gemacht?“, wollte sie wissen. „Was war das für ein Ding, mit dem du den Alarm abgeschaltet hast?“
Christopher hielt ein kleines Kärtchen hoch, das er an einem Schlüsselbund trug.
„Das hier? Das ist ein Universalschlüssel für Elektrofahrzeuge. Bei der Polizei hat bei uns jeder so ein Ding – für den Fall, dass man mal ein Fahrzeug benötigt. Glücklicherweise ist mein Key noch abwärtskompatibel zu den Fahrzeugen dieser Zeit, sonst hätten wir vorhin ein Problem gehabt. Aber wir sollten den Wagen stehen lassen und uns zu Fuß eine Bleibe für die Nacht suchen. Ich habe nicht vor, Bekanntschaft mit unseren Kollegen aus 2098 zu machen. Du etwa?“
Jane schüttelte den Kopf und stieg aus.
Niemand kümmerte sich um sie, als sie die Türen zuschlugen und den Wagen stehen ließen. Christopher grübelte und schwieg.
„Christopher?“
„Ja?“
„Warum bist du so schweigsam?“
„Mir schießt gerade durch den Kopf, dass ich vielleicht in der falschen Zeit bin, um meinen Bruder zu retten. Wenn ich nur noch ein Stück weiter in der Vergangenheit zurück gehen könnte, würde ich ihm helfen können.“
„Das ist ausgeschlossen!“, entrüstete sich Jane. „Jede Zeitreise produziert weitere Probleme in der Zukunft! Wir müssen endlich einen Schnitt ziehen. Du hast es doch in den Unterlagen selbst gesehen ...“
„Ja, aber angenommen, ich bekäme die Chance dazu … Man könnte doch auch dort noch die Zeitreiseforschung unterbinden. Wir könnten beide unsere Ziele erreichen.“
„Christopher, du kannst nicht jeden retten! Einmal muss ein Schnitt gezogen werden!“
„Verdammt noch mal, Jane! Kannst du es nicht verstehen? Es ist mein Bruder! Ich bin aus keinem anderen Grund hier! Seid ihr in eurer Zeit so gefühlskalt, dass ihr euch nicht um eure Leute kümmert?“
Janes Gesichtszüge wurden ernst. Lincoln schoss ihr durch den Kopf. Sie liebte ihn und trotzdem hatte sie sich auf diese Mission eingelassen. Sie überlegte, was sie im umgekehrten Fall getan hätte und musste sich eingestehen, dass sie ähnlich empfunden hätte.
„Du hast recht“, sagte sie leise. „Entschuldige. Trotzdem lass uns zunächst mit den Forscherinnen sprechen und sie überzeugen, ihre Forschungen fallen zu lassen. Je weniger Zeitreisen stattfinden, umso besser wird es sein.“
„Gut, dann lass es uns so machen, aber ich sage dir gleich, dass ich meinen Plan noch nicht aus den Augen verloren habe.“
Jane lächelte ihn an.
„Schade, dass du nicht in meiner Zeit lebst, Christopher. Ich denke, wir würden gut miteinander klar kommen. Du bist genauso zielgerichtet, wie ich es bin. Wie war das nun mit der Bleibe für die Nacht? Ich könnte eine Dusche vertragen und etwas zum Essen.“
Christopher lachte ebenfalls.
„Dann komm mal mit. In dieser Zeit gibt es überall kleine Hotels oder Pensionen, in denen man für wenig Geld übernachten kann. Ich habe sogar Geld dabei. Das ist der Vorteil, wenn man nicht aus einer ganz so fernen Zukunft stammt.“
Gemeinsam machten sie sich auf den Weg. Für beide war es beruhigend, jemanden an der Seite zu wissen, der verstand, worum es ging, und auf den man sich verlassen konnte.
Zuletzt von moriazwo am Mi 02 Jun 2010, 07:38 bearbeitet; insgesamt 6-mal bearbeitet