Und auf geht es in die 32. Runde, in der captaincow gegen Thora antritt
Das Thema war eine Kurzgeschichte zu einem Zitat, das vor 1900 gemacht wurde^^
Eine interessante Wahl, wie ich finde ^.^
Ihr hab von jetzt an 14 Tage Zeit, zu voten
Voteschluss: 10. Mai 2011
Und hier die Werke der Kontrahenten:
Liebe L
Sehr geehrte Schwester
Lissy,
Elisabeth,
ich weiß, dass du noch nie gerne gelesen hast. Aber jetzt bleibt mir nichts anderes übrig, als dir einen Brief zu schreiben. Mit dir reden konnte ich schon länger nicht mehr – jetzt ist das noch schwieriger geworden.
Du hast weder gern gelesen noch geschrieben, das ist mir klar. Dennoch frage ich mich, warum du uns nichts hiergelassen hast. Du weißt, wie Mama und Papa dichlieben geliebt haben. Du warst ihr Engel und jetzt bist du einfach verschwunden, ohne ein Wort.
Sie geben sich selbst die Schuld dafür, dass du weg bist. Manchmal, wenn sie des Selbstmitleids müde sind, beschuldigen sie sich auch gegenseitig. Gestern haben sie sich wieder gestritten: Mama meinte, Papa hätte doch auffallen müssen, dass etwas nicht in Ordnung sei und Papa hat das gleiche von Mama behauptet.
Hättest du nicht einfach einen Abschiedsbrief schreiben können, um die Dinge klarzustellen? Wenn du schon mit niemandem von uns geredet hast, hättest du doch wenigstens das tun können. Ich selbst gebe mir nicht die Schuld,sondern dir. Aber so sind Mama und Papa nicht. Sie machen sich Vorwürfe, dass sie dein Leben kaputt gemacht haben. Andauernd. Sie bemerken nur nicht, dass sie mit ihren aussichtslosen Diskussionen auch ihr und mein Leben zerstören.
Hast du überhaupt auch nur ein einziges Mal daran gedacht? Dass nicht nur du jetzt tot bist, sondern auch unsere Familie? Unser Alltag, unsere Sicherheit – all das ist jetzt weg. Allein deswegen bin ich sauer auf dich.
Trauer – ja, ich trauere, aber ich verstehe dich einfach nicht. Du hattest doch alles – fast jeder tanzte nach deiner Nase. Warum hast du dann so etwas getan? Um uns zu beweisen, dass du zu allem fähig bist und selbst über dich entscheiden kannst?
Das können wir doch alle. Das musstest du uns nicht beweisen.
Ach, Lissy, wie konntest du nur? Natürlich könnte ich jetzt behaupten, ich hätte es besser wissen müssen. Aber das war unmöglich. Du hast mich ohnehin nicht mehr an dich herangelassen.
Hast du gewusst, dass ich ein Jahr lang nicht mehr in deinem Zimmer war? Bis vorgestern zumindest. Samson war hier, er meinte, er wolle sich ein paar seiner Sachen abholen. Aber ich glaube, das war nur ein Vorwand.
Er brauchte sehr lange, also ging ich nach etwa zwei Stunden hinauf in dein Zimmer, um nach ihm zu sehen. Mama war arbeiten und Papa erledigte die Einkäufe.
Er hatte die Tür nur angelehnt, aber ich klopfte trotzdem an. Er antwortete nicht – ich ging trotzdem hinein.
Dein Zimmer hatte ich irgendwie kleiner in Erinnerung. Und im Laufe des vergangenen Jahres musst du die ganzen Fluch-der-Karibik-Poster von den Wänden genommen haben, denn die schneeweiße Tapete war mir auch unbekannt.
Samson saß auf deinem Bett und guckte ins Leere. Es war gruselig. Ich glaube, ich habe ihn noch nie so müde gesehen. Vielleicht ist müde aber auch das falsche Wort. Ich glaube er war viel mehr als müde. Verletzt, verwirrt, verlassen.Traurig.
Erst als ich ihm an die Schulter tippte, erwachte er aus seiner Starre. Zwei Atemzüge lang sagte er nichts. Dann begann er, mich anzuschreien. Ich solle mich verpissen, meinte er, hielt mich dabei aber so fest, dass ich mich nicht rühren konnte.
Du tust mir weh, sagte ich ihm, aber ich glaube, er hörte es nicht.
Er schrie immer weiter, dannküsste presste er seine Lippen auf meine, nur ganz kurz, aber er tat es. Lissy, es war mein Erster. Und das von… ihm. Du weißt, dass ich ihn noch nie leiden konnte. Entweder er ignorierte mich oder er behandelte mich wie ein Kleinkind. Außerdem ist er so selbstverliebt.
Nach seinem seltsamen Kuss (man kann es nicht einmal Kuss nennen, ich glaube, es war ein Akt der Verzweiflung) schob er mich weg. Tränen glitzerten in seinen Augen. Am liebsten hätte ich ihm das unter die Nase gerieben – dass ich wusste, was mit ihm los war, dass er mir nichts vormachen konnte. Stattdessen sagte ich ruhig, er sei nicht der Einzige, der unter deinemTod Verschwinden zu leiden hätte und dass er sich nicht alles erlauben könnte.
Er antwortete, es tue ihm leid. Dann lachte er und meinte, er hätte nur testen wollen, ob wir beiden noch irgendeine Gemeinsamkeit außer unserer Nachnamen besäßen. Als ich ihm in die Schulter kniff, lachte er wieder. Ich mag sein Lachen nicht. Es ist so hart und … dreckig. Vielleicht hätte ich ihn ohrfeigen sollen, aber das traute ich mich nicht.
Ich fragte ihn nach den Postern. Er meinte, du hättest sie abgenommen, weil Orlando Bloom und Johnny Depp mit seiner Schönheit nicht mithalten konnten. Ich sagte ihm, du seist wahrscheinlich einfach erwachsen geworden. Darüber lachte er wieder. Dann ging er – ohne etwas mitzunehmen.
Ich blieb in deinem Zimmer (wo ich jetzt übrigens wieder sitze – an den Ausblick aus deinem Fenster konnte ich mich auch nicht mehr erinnern).
Langsam wird mir klar, dass ich wohl gar nicht auf dich wütend bin. Er ist schuld. An Allem.
Lissy, verzeih mir bitte, dass ich am Anfang so einen Mist geschrieben habe. Ich bin immer noch enttäuscht von dir, fuchsteufelswild geradezu, aber ich wollte nicht so unfreundlich sein. Ich vermisse dich, aber das tat ich auch schon, als du nochhier warst gelebt hast. Früher warst du meine große Schwester – irgendwann dann nur noch jemand, der im gleichen Haus wohnte.
Ich wünschte, du hättest mehr mit mir geredet. Ich wünschte, wir hätten mehr zusammen unternommen. Gestern habe ich Fotos durchgeschaut. Das letzte Bild, auf dem wir gemeinsam zu sehen sind, ist etwa drei Jahre alt. Du hast einen Propellerhut auf (wie Karlsson vom Dach).
Ich denke, ich hatte Recht mit dem, was ich zu Samson gesagt habe. Du bist einfach erwachsen geworden – und ich kannte dich eben immer nur als Kind.
Ich sollte aufhören. Die Sonne ist gerade aufgegangen, scheint in dein Zimmer und die Vögel singen ihr Morgenlied. Gleich ist deine Beerdigung. Samson wird auch da sein; ich hoffe, er ignoriert mich einfach wieder.
Den Brief werde ich dir auf deine Reise mitgeben. Hoffentlich bist du jetzt glücklicher, wo auch immer du bist.
Leb wohl, Lissy,
deine Greta
Festen Mut in schwerem Leiden,
Hülfe, wo die Unschuld weint
(von Thora)
Freude, schöner Götterfunken,
Tochter aus Elisium,
Wir betreten feuertrunken
Himmlische, dein Heiligthum.
Deine Zauber binden wieder,
was der Mode Schwerd getheilt;
Bettler werden Fürstenbrüder,
wo dein sanfter Flügel weilt.
Ein kleines Land, mitten im Nirgendwo, von dem man außerhalb kaum jemals gehört hat. Die Menschen leben stumm und unauffällig hinter verschlossenen Türen. Es ist ein tristes Miteinander, oder viel mehr, ein tristes Nebeneinander, denn von Zusammenleben kann man in diesem Land kaum sprechen. Kaum etwas ist geblieben von der alten Gesellschaft, in der die Menschen einer Klasse zusammenstanden wie Blutsverwandte, um sich gegen den Feind zu verteidigen. Heute traut sich niemand mehr, für den anderen einzustehen, jeder hat Angst um seine eigene Haut.
Die Reichen fürchten um ihren Lebensstil – nur ein falscher Schritt und das schöne, angenehme Leben würde ihnen entrissen. Die Armen fürchten um alles, was ihnen geblieben ist: Familie, Heimat, Lebensmittel. Man hat sich daran gewöhnt, denn schon seit Jahrzehnten hat es niemand gewagt, offen seine Meinung kundzutun. Die Bewohner des kleinen Landes versuchen krankhaft, sich aus der Politik herauszuhalten, um ja keinen Fehltritt zu begehen. Sie leben nur noch im Privaten, im eigenen Heim, vollkommen abgeschottet von allen anderen: die Reichen von den Armen, die Wichtigen von den Entbehrlichen. Mit gesenkten Häuptern geht man durch die Straßen, wenn es sich denn nicht vermeiden lässt, doch einmal das Haus zu verlassen. Kein Blick darf in die falsche Richtung gehen, deshalb starrt man stumm auf die eigenen Füße.
Auch Anjalis Augen sind fest auf den Weg vor ihr fixiert, als sie vom Markt zurück nach Hause geht. Sie wagt sich kaum durch die eigene Tür. Sie weiß, was sie dort erwartet. Mit zitternden Fingern öffnet sie das brüchige Schloss und tritt ein. Niemand wartet drinnen, um sie zu begrüßen. Doch als sie in die Küche geht, steht Er vor ihr. Warum es so lange gedauert habe, fragt Er. Sie versucht Ihn zu beschwichtigen, es seien nun einmal viele Menschen dort gewesen, und die Ware sei knapp. Da habe sie die Zeit wohl genutzt, um mit den Nachbarmännern zu schäkern, ruft Er voller Zorn. Sie beteuert, es liege ihr fern, fremden Männern nachzustellen, doch Er hört ihr gar nicht zu. Knall. Die erste Ohrfeige. Knall. Die zweite. Sie weiß, dass es mindestens fünf werden, sie hat sie immer wieder gezählt. Knall. Die dritte. Zitternd und schluchzend fällt sie vor Ihm auf die Knie, fleht Ihn an, ihr doch zu glauben. Steh auf, du verlogenes Weib, schreit Er und schlägt wieder zu. Knall. Die vierte. Sie wirft sich auf den Boden zu Seinen Füßen, um Gnade bettelnd. Knall. Die fünfte. Für heute schien Ihm das genug. Er lässt von ihr ab. Wimmernd vor Schmerz krümmt sie sich auf dem Boden zusammen und kämpft gegen die Ohnmacht an.
Von draußen klingen laute Rufe zu ihr herein. Ein Knall wie von einem Gewehrschuss zuckt durch die Luft, bald noch einer. Panische Schreie werden laut. Sie stemmt sich vom Boden hoch und wagt einen Blick hinaus, doch prompt ist Er wieder hinter ihr. Sie zuckt zurück und senkt demütig den Kopf. Er soll nicht wieder denken, sie sähe sich nach anderen um. Er schiebt sie grob beiseite und sieht selbst aus dem Fenster. Er bedenkt die Männer draußen mit einem verächtlichen Schnauben und verlässt die Küche wieder. Von den Vorgängen draußen hält Er nichts. Hoffnungsvoll wirft sie noch einen Blick hinaus.
In diesem Moment pocht es laut an die Tür. Anjali eilt, um schnell öffnen zu können. Er hasst es, wenn sie trödelt. Kaum dass sie einen Blick hinaus gewagt hat, fällt ihr ein lebloser Mann in die Arme. Sein dünner Körper ist mit Blut überströmt und zuckt schwach. Hektisch zieht sie ihn über die Türschwelle, doch sie hat ihn kaum auf dem Boden abgelegt, als sich die Augen des Mannes schließen. Sie legt die Hand an seinen Hals, doch kein Puls ist zu fühlen. Starr vor Schreck sitzt sie da, unfähig, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. In diesem Moment kommt Er in den Flur. Was hast du mit diesem schmutzigen Hund zu schaffen, schreit Er. Nimm deine Finger von ihm! Sie reißt die Hände von dem unbeweglichen Körper und springt auf, den Kopf gesenkt und den Schlag erwartend. Er stapft auf sie zu. Das ist also der Grund, warum meine Frau sich so lange draußen herumtreibt, faucht Er. Sie weicht zurück, Schrittchen für Schrittchen. Niemals, nein, sie kenne den Mann doch gar nicht, beteuert sie. Sie habe doch nur helfen wollen. Er ignoriert sie, ignoriert ihr Weinen und ihr Flehen, wie Er sie immer ignoriert hat. Sie stolpert rückwärts, voller Panik. Ihre Füße bleiben an der Türschwelle hängen. Sie strauchelt. Neben ihr schlägt die noch immer geöffnete Tür gegen die Wand. Hinter ihr ertönt das Getöse des Schusswechsels, vor ihr das Knurren aus Seinem Hals. Sie zögert kurz, eine Sekunde, vielleicht zwei. Dann dreht sie sich um und rennt. Stoff verheddert sich zwischen ihren Beinen und behindert sie, doch sie reißt ihn hoch und rennt weiter. Bis Er verstanden hat, was passiert ist, hat sie schon hundert Schritte geschafft und verschwindet in einer Seitengasse. Ihre Schritte tragen sie weiter, ohne dass sie selbst weiß, wohin. Sie hört Sein Keuchen hinter sich und kann nur noch an Flucht denken. Ihre Füße schmerzen und die staubige Luft sticht in ihren Lungen, doch sie weiß, dass sie jetzt nicht stehen bleiben darf.
Ihr Weg führt sie mitten in die aufrührerische Menge. Sie zwängt sich zwischen den Menschen hindurch, die Steine auf Polizisten schleudern und Parolen schreien. Ihr Herz rast wie wild, während sie versucht, sich zwischen den Rebellen zu verstecken. Doch Er findet sie. Er findet sie überall. Sie hat es geschafft, sich quer über den Platz zu drängen, und doch ist Er noch hinter ihr. In die Enge getrieben bleibt sie an einer Mauer stehen. Sie hat keine Wahl mehr; jetzt heißt es Kämpfen oder Sterben.
Zwischen all den schreienden Menschen fallen sie gar nicht auf. Er kommt langsam auf sie zu, man kann förmlich die Vorfreude in Seinem Gesicht lesen. Er erwartet Seine Beute und ist sich sicher, sie zu bekommen. Drei Schritte trennen sie. Zwei. Einer. Knall. Der erste Schlag. Knall. Der zweite. Knall. Der dritte. Knall. Der vierte. Seine Augen starren sie überrascht an, als Er zu Boden geht.
Das kleine Land mitten im Nirgendwo feiert. Anjali steht inmitten der tosenden Menge. Sie hat kaum mitbekommen, was passiert, nur hier und da schnappt sie ein paar Gesprächsfetzen auf. Er ist tot, rufen sie. Endlich sind wir frei.
An diesem Tag ist nichts, wie es jemals gewesen ist. Voller Schuldgefühle blickt Anjali auf den Leichnam ihres Mannes und doch ist sie so erleichtert, dass sie es mit Worten nicht beschreiben kann. Sie wirft ihren Schleier ab und mischt sich unter die tanzenden Menschen. Freiheit, ruft sie, endlich leben!
Das Thema war eine Kurzgeschichte zu einem Zitat, das vor 1900 gemacht wurde^^
Eine interessante Wahl, wie ich finde ^.^
Ihr hab von jetzt an 14 Tage Zeit, zu voten
Voteschluss: 10. Mai 2011
Und hier die Werke der Kontrahenten:
ETWAS BLEIBT
(von captaincow - Gewinnergeschichte)
„Das erste, was uns bey einem Briefe einfällt, ist dieses, dass er die Stelle eines Gesprächs vertritt.“
– Christian Fürchtegott Gellert in „Brief nebst einer Abhandlung“ (1751) -
(von captaincow - Gewinnergeschichte)
„Das erste, was uns bey einem Briefe einfällt, ist dieses, dass er die Stelle eines Gesprächs vertritt.“
– Christian Fürchtegott Gellert in „Brief nebst einer Abhandlung“ (1751) -
Sehr geehrte Schwester
Lissy,
Elisabeth,
ich weiß, dass du noch nie gerne gelesen hast. Aber jetzt bleibt mir nichts anderes übrig, als dir einen Brief zu schreiben. Mit dir reden konnte ich schon länger nicht mehr – jetzt ist das noch schwieriger geworden.
Du hast weder gern gelesen noch geschrieben, das ist mir klar. Dennoch frage ich mich, warum du uns nichts hiergelassen hast. Du weißt, wie Mama und Papa dich
Sie geben sich selbst die Schuld dafür, dass du weg bist. Manchmal, wenn sie des Selbstmitleids müde sind, beschuldigen sie sich auch gegenseitig. Gestern haben sie sich wieder gestritten: Mama meinte, Papa hätte doch auffallen müssen, dass etwas nicht in Ordnung sei und Papa hat das gleiche von Mama behauptet.
Hättest du nicht einfach einen Abschiedsbrief schreiben können, um die Dinge klarzustellen? Wenn du schon mit niemandem von uns geredet hast, hättest du doch wenigstens das tun können. Ich selbst gebe mir nicht die Schuld,
Hast du überhaupt auch nur ein einziges Mal daran gedacht? Dass nicht nur du jetzt tot bist, sondern auch unsere Familie? Unser Alltag, unsere Sicherheit – all das ist jetzt weg. Allein deswegen bin ich sauer auf dich.
Trauer – ja, ich trauere, aber ich verstehe dich einfach nicht. Du hattest doch alles – fast jeder tanzte nach deiner Nase. Warum hast du dann so etwas getan? Um uns zu beweisen, dass du zu allem fähig bist und selbst über dich entscheiden kannst?
Das können wir doch alle. Das musstest du uns nicht beweisen.
Ach, Lissy, wie konntest du nur? Natürlich könnte ich jetzt behaupten, ich hätte es besser wissen müssen. Aber das war unmöglich. Du hast mich ohnehin nicht mehr an dich herangelassen.
Hast du gewusst, dass ich ein Jahr lang nicht mehr in deinem Zimmer war? Bis vorgestern zumindest. Samson war hier, er meinte, er wolle sich ein paar seiner Sachen abholen. Aber ich glaube, das war nur ein Vorwand.
Er brauchte sehr lange, also ging ich nach etwa zwei Stunden hinauf in dein Zimmer, um nach ihm zu sehen. Mama war arbeiten und Papa erledigte die Einkäufe.
Er hatte die Tür nur angelehnt, aber ich klopfte trotzdem an. Er antwortete nicht – ich ging trotzdem hinein.
Dein Zimmer hatte ich irgendwie kleiner in Erinnerung. Und im Laufe des vergangenen Jahres musst du die ganzen Fluch-der-Karibik-Poster von den Wänden genommen haben, denn die schneeweiße Tapete war mir auch unbekannt.
Samson saß auf deinem Bett und guckte ins Leere. Es war gruselig. Ich glaube, ich habe ihn noch nie so müde gesehen. Vielleicht ist müde aber auch das falsche Wort. Ich glaube er war viel mehr als müde. Verletzt, verwirrt, verlassen.
Erst als ich ihm an die Schulter tippte, erwachte er aus seiner Starre. Zwei Atemzüge lang sagte er nichts. Dann begann er, mich anzuschreien. Ich solle mich verpissen, meinte er, hielt mich dabei aber so fest, dass ich mich nicht rühren konnte.
Du tust mir weh, sagte ich ihm, aber ich glaube, er hörte es nicht.
Er schrie immer weiter, dann
Nach seinem seltsamen Kuss (man kann es nicht einmal Kuss nennen, ich glaube, es war ein Akt der Verzweiflung) schob er mich weg. Tränen glitzerten in seinen Augen. Am liebsten hätte ich ihm das unter die Nase gerieben – dass ich wusste, was mit ihm los war, dass er mir nichts vormachen konnte. Stattdessen sagte ich ruhig, er sei nicht der Einzige, der unter deinem
Er antwortete, es tue ihm leid. Dann lachte er und meinte, er hätte nur testen wollen, ob wir beiden noch irgendeine Gemeinsamkeit außer unserer Nachnamen besäßen. Als ich ihm in die Schulter kniff, lachte er wieder. Ich mag sein Lachen nicht. Es ist so hart und … dreckig. Vielleicht hätte ich ihn ohrfeigen sollen, aber das traute ich mich nicht.
Ich fragte ihn nach den Postern. Er meinte, du hättest sie abgenommen, weil Orlando Bloom und Johnny Depp mit seiner Schönheit nicht mithalten konnten. Ich sagte ihm, du seist wahrscheinlich einfach erwachsen geworden. Darüber lachte er wieder. Dann ging er – ohne etwas mitzunehmen.
Ich blieb in deinem Zimmer (wo ich jetzt übrigens wieder sitze – an den Ausblick aus deinem Fenster konnte ich mich auch nicht mehr erinnern).
Langsam wird mir klar, dass ich wohl gar nicht auf dich wütend bin. Er ist schuld. An Allem.
Lissy, verzeih mir bitte, dass ich am Anfang so einen Mist geschrieben habe. Ich bin immer noch enttäuscht von dir, fuchsteufelswild geradezu, aber ich wollte nicht so unfreundlich sein. Ich vermisse dich, aber das tat ich auch schon, als du noch
Ich wünschte, du hättest mehr mit mir geredet. Ich wünschte, wir hätten mehr zusammen unternommen. Gestern habe ich Fotos durchgeschaut. Das letzte Bild, auf dem wir gemeinsam zu sehen sind, ist etwa drei Jahre alt. Du hast einen Propellerhut auf (wie Karlsson vom Dach).
Ich denke, ich hatte Recht mit dem, was ich zu Samson gesagt habe. Du bist einfach erwachsen geworden – und ich kannte dich eben immer nur als Kind.
Ich sollte aufhören. Die Sonne ist gerade aufgegangen, scheint in dein Zimmer und die Vögel singen ihr Morgenlied. Gleich ist deine Beerdigung. Samson wird auch da sein; ich hoffe, er ignoriert mich einfach wieder.
Den Brief werde ich dir auf deine Reise mitgeben. Hoffentlich bist du jetzt glücklicher, wo auch immer du bist.
Leb wohl, Lissy,
deine Greta
VS
Festen Mut in schwerem Leiden,
Hülfe, wo die Unschuld weint
(von Thora)
Freude, schöner Götterfunken,
Tochter aus Elisium,
Wir betreten feuertrunken
Himmlische, dein Heiligthum.
Deine Zauber binden wieder,
was der Mode Schwerd getheilt;
Bettler werden Fürstenbrüder,
wo dein sanfter Flügel weilt.
An die Freude, Friedrich von Schiller, 1786
Ein kleines Land, mitten im Nirgendwo, von dem man außerhalb kaum jemals gehört hat. Die Menschen leben stumm und unauffällig hinter verschlossenen Türen. Es ist ein tristes Miteinander, oder viel mehr, ein tristes Nebeneinander, denn von Zusammenleben kann man in diesem Land kaum sprechen. Kaum etwas ist geblieben von der alten Gesellschaft, in der die Menschen einer Klasse zusammenstanden wie Blutsverwandte, um sich gegen den Feind zu verteidigen. Heute traut sich niemand mehr, für den anderen einzustehen, jeder hat Angst um seine eigene Haut.
Die Reichen fürchten um ihren Lebensstil – nur ein falscher Schritt und das schöne, angenehme Leben würde ihnen entrissen. Die Armen fürchten um alles, was ihnen geblieben ist: Familie, Heimat, Lebensmittel. Man hat sich daran gewöhnt, denn schon seit Jahrzehnten hat es niemand gewagt, offen seine Meinung kundzutun. Die Bewohner des kleinen Landes versuchen krankhaft, sich aus der Politik herauszuhalten, um ja keinen Fehltritt zu begehen. Sie leben nur noch im Privaten, im eigenen Heim, vollkommen abgeschottet von allen anderen: die Reichen von den Armen, die Wichtigen von den Entbehrlichen. Mit gesenkten Häuptern geht man durch die Straßen, wenn es sich denn nicht vermeiden lässt, doch einmal das Haus zu verlassen. Kein Blick darf in die falsche Richtung gehen, deshalb starrt man stumm auf die eigenen Füße.
Auch Anjalis Augen sind fest auf den Weg vor ihr fixiert, als sie vom Markt zurück nach Hause geht. Sie wagt sich kaum durch die eigene Tür. Sie weiß, was sie dort erwartet. Mit zitternden Fingern öffnet sie das brüchige Schloss und tritt ein. Niemand wartet drinnen, um sie zu begrüßen. Doch als sie in die Küche geht, steht Er vor ihr. Warum es so lange gedauert habe, fragt Er. Sie versucht Ihn zu beschwichtigen, es seien nun einmal viele Menschen dort gewesen, und die Ware sei knapp. Da habe sie die Zeit wohl genutzt, um mit den Nachbarmännern zu schäkern, ruft Er voller Zorn. Sie beteuert, es liege ihr fern, fremden Männern nachzustellen, doch Er hört ihr gar nicht zu. Knall. Die erste Ohrfeige. Knall. Die zweite. Sie weiß, dass es mindestens fünf werden, sie hat sie immer wieder gezählt. Knall. Die dritte. Zitternd und schluchzend fällt sie vor Ihm auf die Knie, fleht Ihn an, ihr doch zu glauben. Steh auf, du verlogenes Weib, schreit Er und schlägt wieder zu. Knall. Die vierte. Sie wirft sich auf den Boden zu Seinen Füßen, um Gnade bettelnd. Knall. Die fünfte. Für heute schien Ihm das genug. Er lässt von ihr ab. Wimmernd vor Schmerz krümmt sie sich auf dem Boden zusammen und kämpft gegen die Ohnmacht an.
Von draußen klingen laute Rufe zu ihr herein. Ein Knall wie von einem Gewehrschuss zuckt durch die Luft, bald noch einer. Panische Schreie werden laut. Sie stemmt sich vom Boden hoch und wagt einen Blick hinaus, doch prompt ist Er wieder hinter ihr. Sie zuckt zurück und senkt demütig den Kopf. Er soll nicht wieder denken, sie sähe sich nach anderen um. Er schiebt sie grob beiseite und sieht selbst aus dem Fenster. Er bedenkt die Männer draußen mit einem verächtlichen Schnauben und verlässt die Küche wieder. Von den Vorgängen draußen hält Er nichts. Hoffnungsvoll wirft sie noch einen Blick hinaus.
In diesem Moment pocht es laut an die Tür. Anjali eilt, um schnell öffnen zu können. Er hasst es, wenn sie trödelt. Kaum dass sie einen Blick hinaus gewagt hat, fällt ihr ein lebloser Mann in die Arme. Sein dünner Körper ist mit Blut überströmt und zuckt schwach. Hektisch zieht sie ihn über die Türschwelle, doch sie hat ihn kaum auf dem Boden abgelegt, als sich die Augen des Mannes schließen. Sie legt die Hand an seinen Hals, doch kein Puls ist zu fühlen. Starr vor Schreck sitzt sie da, unfähig, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. In diesem Moment kommt Er in den Flur. Was hast du mit diesem schmutzigen Hund zu schaffen, schreit Er. Nimm deine Finger von ihm! Sie reißt die Hände von dem unbeweglichen Körper und springt auf, den Kopf gesenkt und den Schlag erwartend. Er stapft auf sie zu. Das ist also der Grund, warum meine Frau sich so lange draußen herumtreibt, faucht Er. Sie weicht zurück, Schrittchen für Schrittchen. Niemals, nein, sie kenne den Mann doch gar nicht, beteuert sie. Sie habe doch nur helfen wollen. Er ignoriert sie, ignoriert ihr Weinen und ihr Flehen, wie Er sie immer ignoriert hat. Sie stolpert rückwärts, voller Panik. Ihre Füße bleiben an der Türschwelle hängen. Sie strauchelt. Neben ihr schlägt die noch immer geöffnete Tür gegen die Wand. Hinter ihr ertönt das Getöse des Schusswechsels, vor ihr das Knurren aus Seinem Hals. Sie zögert kurz, eine Sekunde, vielleicht zwei. Dann dreht sie sich um und rennt. Stoff verheddert sich zwischen ihren Beinen und behindert sie, doch sie reißt ihn hoch und rennt weiter. Bis Er verstanden hat, was passiert ist, hat sie schon hundert Schritte geschafft und verschwindet in einer Seitengasse. Ihre Schritte tragen sie weiter, ohne dass sie selbst weiß, wohin. Sie hört Sein Keuchen hinter sich und kann nur noch an Flucht denken. Ihre Füße schmerzen und die staubige Luft sticht in ihren Lungen, doch sie weiß, dass sie jetzt nicht stehen bleiben darf.
Ihr Weg führt sie mitten in die aufrührerische Menge. Sie zwängt sich zwischen den Menschen hindurch, die Steine auf Polizisten schleudern und Parolen schreien. Ihr Herz rast wie wild, während sie versucht, sich zwischen den Rebellen zu verstecken. Doch Er findet sie. Er findet sie überall. Sie hat es geschafft, sich quer über den Platz zu drängen, und doch ist Er noch hinter ihr. In die Enge getrieben bleibt sie an einer Mauer stehen. Sie hat keine Wahl mehr; jetzt heißt es Kämpfen oder Sterben.
Zwischen all den schreienden Menschen fallen sie gar nicht auf. Er kommt langsam auf sie zu, man kann förmlich die Vorfreude in Seinem Gesicht lesen. Er erwartet Seine Beute und ist sich sicher, sie zu bekommen. Drei Schritte trennen sie. Zwei. Einer. Knall. Der erste Schlag. Knall. Der zweite. Knall. Der dritte. Knall. Der vierte. Seine Augen starren sie überrascht an, als Er zu Boden geht.
Das kleine Land mitten im Nirgendwo feiert. Anjali steht inmitten der tosenden Menge. Sie hat kaum mitbekommen, was passiert, nur hier und da schnappt sie ein paar Gesprächsfetzen auf. Er ist tot, rufen sie. Endlich sind wir frei.
An diesem Tag ist nichts, wie es jemals gewesen ist. Voller Schuldgefühle blickt Anjali auf den Leichnam ihres Mannes und doch ist sie so erleichtert, dass sie es mit Worten nicht beschreiben kann. Sie wirft ihren Schleier ab und mischt sich unter die tanzenden Menschen. Freiheit, ruft sie, endlich leben!