{PROSABATTLE}
POOLY VS. TAN
POOLY VS. TAN
Hallo ihr Lieben!
Ich freue mich, das heutige Battle stellvertretend erstellen zu dürfen. Denn ihr habt es bereits gelesen: Es treten sich heute Marie und Tan gegenüber! Die beiden haben sich folgende Battle-Vorgaben ausgedacht:
Textart: Prosa
Thema: Ein Prolog, in den in irgendeiner Art und Weise ein Brief mit eingebunden ist
Genre: Reality/Drama
Ihr habt von heute an zwei Wochen Zeit, um zwischen den beiden Texten abzustimmen. Über einen Kommentar würden sich beide Schreiberlinge bestimmt auch sehr freuen. Abstimmungsende ist am Abend des 13. Oktobers.
Ich freue mich, das heutige Battle stellvertretend erstellen zu dürfen. Denn ihr habt es bereits gelesen: Es treten sich heute Marie und Tan gegenüber! Die beiden haben sich folgende Battle-Vorgaben ausgedacht:
Textart: Prosa
Thema: Ein Prolog, in den in irgendeiner Art und Weise ein Brief mit eingebunden ist
Genre: Reality/Drama
Ihr habt von heute an zwei Wochen Zeit, um zwischen den beiden Texten abzustimmen. Über einen Kommentar würden sich beide Schreiberlinge bestimmt auch sehr freuen. Abstimmungsende ist am Abend des 13. Oktobers.
So lass die Wunden verschwinden
Prolog
Erst will ich die Zeilen per Computer verfassen. Das würde viel schneller gehen, und ich könnte die unliebsamen Stellen einfach löschen und neu schreiben. Oder ganz weglassen. Den Brief per Mail wegschicken. Sogar eine Lesebestätigung anfordern. Das wäre viel leichter.
Ich habe noch nie gern per Hand geschrieben, aber ist es so nicht viel persönlicher? Da ist eine Mail ja schon wie eine SMS. Irgendwie so … distanziert. So mühelos.
Ich seufze und suche nach schönem Papier. Welches nehme ich – komplett weißes? Kariertes? Liniertes? Briefpapier habe ich leider nicht. Ich habe noch nie einen Brief geschrieben, maximal eine Postkarte – und die wäre unangebracht. Abgesehen davon würde sie nicht reichen.
Ich entscheide mich für das weiße Papier und lege ein liniertes Blatt darunter. Die Zeilen scheinen nur leicht und zart hindurch, und ich muss das Licht noch etwas besser drehen. Ich ruckle an der Schreibtischlampe, ein paar Sekunden, dann ist es besser.
Was brauche ich noch? Ach ja, einen Stift. Kugelschreiber? Nein, die klecksen so. Schmunzelnd bemerke ich, dass, wenn ich schon einen Brief schreibe, es auch perfekt werden muss. Wie so vieles in meinem Leben, wenn nicht sogar alles. Wahrscheinlich läuft gerade deshalb alles schief.
Schon fast ehrfürchtig ziehe ich die untere Schreibtischschublade auf. Dort bewahre ich meine liebsten Dinge. Eine Tafel Schokolade aus Paris, die meine Oma mir schenkte, nachdem sie dort im Urlaub war. Das ist sechs Jahre her, da war ich fünfzehn. Sie starb einen Tag danach. Ich hätte die Schokolade niemals genüsslich essen können.
Des weiteren sind zwei Bilder darin: eines von mir und meinem Vater, der vor drei Jahren auszog. Ich vermisse ihn sehr. Er kommt mich kaum besuchen. Es sei besser so, sagt er. Er will nicht, dass ich ihm Mitleid schenke, will nicht meine Blicke sehen, die vorwurfsvoll sein würden. Dabei wären sie das nicht. Jetzt sind sie es, weil er mich nicht bei sich haben will, aber so schlimm ist das ja nicht. Er hat ja den Alkohol. Das scheint ihm zu genügen.
Bei dem zweiten Bild wird mir kalt. Es ist das Ultraschallbild eines Kindes, sieben Wochen jung. Schnell sehe ich daran vorbei und ziehe die Schublade noch etwas weiter heraus. Ich höre die Bewegung des Metalls auf dem Holz, als der Füllhalter, den ich in der Grundschule benutzte, nach vorne rollt. Schnell greife ich nach ihm und schließe die Schublade, vielleicht etwas zu hektisch. Ich denke nicht gern über diese Dinge nach, aber vergessen will ich sie auch nicht. Und ich würde es auch nicht können. Sie gehören zu meiner Seele und meinem Leben, sie machen einen Teil von mir aus – auch wenn ich es lieber anders hätte.
Ich schraube den Füllhalter auf. Wie vermutet ist die Patrone eingetrocknet, die zuletzt darin war, doch im Gehäuse war immer Platz für zwei Tintenpatronen, und so schüttle ich die neue, unbenutzte heraus und werfe die alte in den Papierkorb, nachdem ich sie ersetzt habe.
Zittern meine Finger etwa?
Ganz klasse, ich will einen Brief schreiben und meine Hände wollen nicht mitmachen. Aber sie müssen. Es gibt kein Zurück. Ich würde mich hassen, würde ich mich jetzt drücken.
Abermals seufzend ziehe ich die Kappe von dem Stift und setze die metallene Feder auf dem Papier auf. Kurz schließe ich die Augen und atme durch. Als ich sie wieder öffne ist ein kleiner kreisrunder Fleck dort geworden, wo das Papier die Tinte gierig aufgesogen hat. Das kann ich dann noch ausbessern. Jetzt muss ich beginnen zu schreiben, bevor ich nicht mehr den Mut dazu habe.
Lieber Ben,
ich weiß nicht recht, wie ich anfangen soll. Ich möchte dir auch nicht auf den ersten Zeilen Vorwürfe machen, weil du nicht an dein Telefon gehst und mir nicht zurückschreibst. Eigentlich will ich dir gar keine Vorwürfe machen. Ich möchte mich so gern bei dir entschuldigen, und das kann ich nur durch diesen Brief, denn anders komme ich nicht an dich heran. Und ich möchte es gern erklären, weil ich will dass du verstehst. Ob du das kannst, weiß ich nicht, aber ich werde dir alles erzählen, bis ins kleinste Detail. Ich lasse nichts aus. Du hast es verdient, die Wahrheit zu erfahren.
Ja, ich bin vor zwei Wochen nicht zu unserem Date erschienen. Zum wiederholten Mal. Das hat dich sehr verletzt, das weiß ich. „Es tut mir Leid“ ist an dieser Stelle womöglich zu leicht gesagt und macht nicht einmal im Ansatz das gut, was ich dir damit angetan habe.
Ich weiß auch nicht wie lange du auf mich gewartet hast. Es ist nur so: du solltest mich lieber aufgeben.
Scheiße.
Ich starre auf die Zeilen, und meine Hand zittert noch mehr. Ich mag diesen Mann wirklich – er sieht gut aus, war mir auf den ersten Blick sympathisch, er hat Anstand, ist zuvorkommend und freundlich, das habe ich bei den Treffen mit Freunden gemerkt, wo er dabei war.
Aber ihn allein irgendwo treffen? Ich will es ja, ich will ihn kennenlernen. Doch immer, wenn ich nur wenige Meter von ihm entfernt bin, bekomme ich Angst.
Todesangst.
„Verdammt nochmal!“ Ich greife nach dem Glas, gefüllt mit Wasser, das auf meinem Schreibtisch steht und werfe es an die Wand. Laut zerbricht es an ihr, die Scherben fliegen davon, ein nasser Fleck bildet sich auf der Tapete und dem Laminat.
Schluchzend beiße ich mir auf die Lippen, greife mit der rechten Hand nach dem Zettel und zerknülle ihn, werfe ihn in den Papierkorb. Wozu mit Worten hadern? Ich kann mich auch nie mehr bei ihm melden, jeglichen Kontakt mit ihm meiden. Das ist für ihn vermutlich einfacher, und für mich eine Last weniger.
Noch immer weinend gehe ich in die Hocke, öffne wieder die unterste Schublade meines Schreibtisches, um den Füller wieder hineinzulegen. Mein Blick streift wieder das Bild. Sachte und zart fahre ich mit Zeige- und Mittelfinger darüber. Nein, nie wieder soll ein Mann in meine Nähe kommen.
Nicht noch einmal will ich etwas durchmachen wie damals. Ich habe dafür gebüßt, und ich lerne aus meinen Fehlern.
DIE SCHÖPFER DER WOLKEN
Prolog - Der Autor
Prolog - Der Autor
Koba. Ich kann nicht schlafen, denn seit du nicht mehr da bist, ist das Haus so kalt wie meine Gedanken. Ich nenne das ein Paradoxon, denn als du noch am Leben warst, habe ich dir so oft Kaltherzigkeit unterstellt, dass ich glaubte, in deiner Nähe zu frösteln. Dabei muss es, wie ich nun erkenne, so gewesen sein, dass mir nur dann kalt wurde, wenn ich deine Nähe gerade wieder verließ – es muss so gewesen sein, dass es um dich herum so warm war, dass es mich plötzlich fror, wenn ich deine Zimmertür wieder hinter mir schloss.
Nun sitze ich an deinem Schreibtisch und kann nicht umhin, aus dem alten Fenster vor mir zu schauen und mich an deine Worte zu erinnern: „Du sieht nur solange, was du sehen möchtest, bis die Vergangenheit dich vollends einholt.“ So konnte ich früher, wenn ich aus dem Fenster deiner Kammer schaute, die Wiesen sehen. Wie jetzt nebelverhangen im frischen Morgen, taubenetzt und unberührt. Ich konnte den Wald in einiger Entfernung sehen, erahnen, wie die Sonne hinter den großen Tannen aufstieg, um einen neuen Herbstmorgen anzukündigen. Ich konnte den kleinen Bach sehen und die Brücke, über die wir als Kinder so oft getollt sind.
Nun sehe ich nur noch dich. Du, wie du deine Beine im Wasser baumeln lässt, du, wie du durch das kniehohe Gras streifst, du, wie du im Wald verschwindest, um dich ins Moos zu legen und zu träumen.
Wie recht du mit allem hattest, was du jemals gesagt hast, und wie sehr ich dich dafür gehasst habe. Wie sehr ich mich selbst für meine Abscheu hasse, denn ich sollte doch, mehr als jeder andere, am besten wissen, dass es jedem Menschen nicht genehm ist, immer und immer wieder nur die Wahrheit hören zu müssen. Und trotzdem konnte ich nicht umhin, dich zu verabscheuen. Trotzdem tue ich es jetzt manchmal noch immer, auch wenn ich mich dieses eine Mal an deinen Rat halten möchte. Dieses eine Mal, damit es mir danach vielleicht besser geht.
„Schreib deine Gedanken auf, wenn du sie ordnen möchtest“, hast du gesagt. „In geschriebener Form liegen sie dann so nackt und wahr vor dir, dass du ihnen nicht mehr entfliehen kannst. Gleichzeitig befreit es dich. Du wirst schon sehen.“
Also schreibe ich. Ich schreibe.
Was jedem Kind klar sein sollte, ist, dass man einen Anfang finden muss, möchte man eine Geschichte erzählen. Man beginnt mit „Es war einmal“ oder mit „Vor langer, langer Zeit an einem weit entfernten Ort“. Man beginnt mit „Mir ist einmal etwas passiert“ oder mit „Heute Morgen, als ich die Milch holen ging“. Wo jedoch soll ich beginnen? Ich erzähle kein Märchen und verfasse keinen Roman. Ich schreibe kein Tagebuch und keine Liebesgeschichte. Vielleicht sollte ich mit dir beginnen. Oder mit mir, denn im Grunde ist es dasselbe.
Dein Schreibtisch ist jetzt mein Schreibtisch, aber es ist nicht so, als würde er mir gehören. Es kleben so viele Erinnerungen an dem alten Holz, dass ich sie manchmal nicht fassen kann. Selbst die Maserung trägt so unverkennbar deine Spuren, dass ich dich vermutlich noch in hundert Jahren darin erkennen würde: die Ringe vom Abstellen der Kaffeetassen sind noch so deutlich zu erkennen, als hätte ich sie vor wenigen Minuten erst fortgeräumt. Die Stellen, an denen das Holz deutliche Kerben hat, erinnern mich daran, wie tief du deine Fingernägel in die Zwischenräume gedrückt hast, wenn du nervös warst. Unter diversen Blättern sieht man noch immer die blaue Farbe hervorschimmern, mit der du den guten Tisch ruiniert hast, als dein Kuli vor mehr als zwei Jahren ausgelaufen ist.
Selbst der Zigarettengeruch, der noch kalt und schwer in den ungewaschenen Vorgängen sitzt, erinnert an dich. Atme ich ihn ein, kann ich dich fast vor mir sehen: jung und voller Leben. Du sitzt über deine Schreibmaschine gebeugt, in Gedanken so tief in deinen Texten versunken, dass dich selbst ein Schrei nicht daraus befreien könnte; die Augen starr auf deine Worte gerichtet, die Zigarette im Mundwinkel, die Finger schmutzig von Tabak und Tinte.
Wie sehr habe ich dich dafür gehasst, wenn du mich - nur wegen der Welten, in die du dich flüchtetest – ignoriert hast, obwohl ich direkt neben dir stand. Und wie sehr habe ich dich dafür bewundert, dass du fliehen konntest; dass es dir im Gegensatz zu uns allen immer gelungen ist, die Wahrheit zu verdrängen, die uns alle um den Verstand brachte.
Koba. Es irritiert mich, wie leicht es mir fällt, deinen Namen zu schreiben, bin ich doch sonst kaum in der Lage, ihn zu denken, gar auszusprechen. Vielleicht wissen meine Finger mehr als ich. Vielleicht können sie akzeptieren, was ich noch zu leugnen versuche: Dass alles mit dir begonnen hat. Mit dir hat es begonnen und – ja, mit dir hat es auch geendet. Alles, denke ich manchmal. Manchmal denke ich, meine Welt ist nur wegen dir untergegangen.
Du warst wie der Blick aus einem Zugfenster bei Nacht. Dieses Gefühl, wenn du hinausschaust und in der Finsternis nach Lichtern suchst, an die du deine irrenden, haltlosen Augen heften kannst. Doch irgendwann bleibst du an deinem blassen Spiegelbild hängen und egal, was du tust, du kommst nicht wieder davon los. Dann fragst du dich, wer du bist und warum du tust, was du tust.
Ebenso warst du; so finster, dass man nichts erkennen konnte – nur sich selbst, wenn man dich lang genug angesehen hat. Dich anzusehen war wie in den Spiegel zu sehen. Das habe ich geliebt. Ich habe dich geliebt – das wusstest du immer, von Anfang an. Du hast es nie ausgesprochen, mich nie deswegen verachtet, obwohl du doch jeden Menschen für alles verachtet hast.
Warum also? Ich schreibe, aber ich verstehe es nicht … noch immer nicht. Und ich habe das Gefühl, dass ich diese Geschichte vielleicht an ganz anderer Stelle ansetzen muss. Viel weiter in der Vergangenheit, irgendwo zwischen dir und dem, was dich antrieb, dem, was ich nie verstand.
„Du sieht nur solange, was du sehen möchtest, bis die Vergangenheit dich vollends einholt“, hast du einmal gesagt und nun spüre ich die Wahrheit deiner Worte in jeder Faser meines Körpers, so echt, als wärst du nicht der Überbringer der Botschaft, sondern Schöpfer ihrer Realität. „Die Vergangenheit holt dich immer ein“, hast du gesagt. „Wenn du zu lange vor ihr geflohen bist, vielleicht. Oder wenn du zu lange die Augen vor ihr verschlossen hast, in der Hoffnung, irgendwann würde sie einfach unsichtbar. Ich verrate dir etwas, Schwesterherz: Die Vergangenheit wird nie unsichtbar und sie lässt sich nicht abhängen, egal, wie schnell du zu rennen versuchst. Sie ist ein selbstsüchtiges Biest, das größer und wütender wird, je länger du es ignorierst. Und irgendwann, wenn du deine Augen einfach nicht öffnest, frisst es dich mit Haut und Haar.“
Nun sitze ich an deinem Schreibtisch und kann nicht umhin, aus dem alten Fenster vor mir zu schauen und mich an deine Worte zu erinnern: „Du sieht nur solange, was du sehen möchtest, bis die Vergangenheit dich vollends einholt.“ So konnte ich früher, wenn ich aus dem Fenster deiner Kammer schaute, die Wiesen sehen. Wie jetzt nebelverhangen im frischen Morgen, taubenetzt und unberührt. Ich konnte den Wald in einiger Entfernung sehen, erahnen, wie die Sonne hinter den großen Tannen aufstieg, um einen neuen Herbstmorgen anzukündigen. Ich konnte den kleinen Bach sehen und die Brücke, über die wir als Kinder so oft getollt sind.
Nun sehe ich nur noch dich. Du, wie du deine Beine im Wasser baumeln lässt, du, wie du durch das kniehohe Gras streifst, du, wie du im Wald verschwindest, um dich ins Moos zu legen und zu träumen.
Wie recht du mit allem hattest, was du jemals gesagt hast, und wie sehr ich dich dafür gehasst habe. Wie sehr ich mich selbst für meine Abscheu hasse, denn ich sollte doch, mehr als jeder andere, am besten wissen, dass es jedem Menschen nicht genehm ist, immer und immer wieder nur die Wahrheit hören zu müssen. Und trotzdem konnte ich nicht umhin, dich zu verabscheuen. Trotzdem tue ich es jetzt manchmal noch immer, auch wenn ich mich dieses eine Mal an deinen Rat halten möchte. Dieses eine Mal, damit es mir danach vielleicht besser geht.
„Schreib deine Gedanken auf, wenn du sie ordnen möchtest“, hast du gesagt. „In geschriebener Form liegen sie dann so nackt und wahr vor dir, dass du ihnen nicht mehr entfliehen kannst. Gleichzeitig befreit es dich. Du wirst schon sehen.“
Also schreibe ich. Ich schreibe.
Was jedem Kind klar sein sollte, ist, dass man einen Anfang finden muss, möchte man eine Geschichte erzählen. Man beginnt mit „Es war einmal“ oder mit „Vor langer, langer Zeit an einem weit entfernten Ort“. Man beginnt mit „Mir ist einmal etwas passiert“ oder mit „Heute Morgen, als ich die Milch holen ging“. Wo jedoch soll ich beginnen? Ich erzähle kein Märchen und verfasse keinen Roman. Ich schreibe kein Tagebuch und keine Liebesgeschichte. Vielleicht sollte ich mit dir beginnen. Oder mit mir, denn im Grunde ist es dasselbe.
Dein Schreibtisch ist jetzt mein Schreibtisch, aber es ist nicht so, als würde er mir gehören. Es kleben so viele Erinnerungen an dem alten Holz, dass ich sie manchmal nicht fassen kann. Selbst die Maserung trägt so unverkennbar deine Spuren, dass ich dich vermutlich noch in hundert Jahren darin erkennen würde: die Ringe vom Abstellen der Kaffeetassen sind noch so deutlich zu erkennen, als hätte ich sie vor wenigen Minuten erst fortgeräumt. Die Stellen, an denen das Holz deutliche Kerben hat, erinnern mich daran, wie tief du deine Fingernägel in die Zwischenräume gedrückt hast, wenn du nervös warst. Unter diversen Blättern sieht man noch immer die blaue Farbe hervorschimmern, mit der du den guten Tisch ruiniert hast, als dein Kuli vor mehr als zwei Jahren ausgelaufen ist.
Selbst der Zigarettengeruch, der noch kalt und schwer in den ungewaschenen Vorgängen sitzt, erinnert an dich. Atme ich ihn ein, kann ich dich fast vor mir sehen: jung und voller Leben. Du sitzt über deine Schreibmaschine gebeugt, in Gedanken so tief in deinen Texten versunken, dass dich selbst ein Schrei nicht daraus befreien könnte; die Augen starr auf deine Worte gerichtet, die Zigarette im Mundwinkel, die Finger schmutzig von Tabak und Tinte.
Wie sehr habe ich dich dafür gehasst, wenn du mich - nur wegen der Welten, in die du dich flüchtetest – ignoriert hast, obwohl ich direkt neben dir stand. Und wie sehr habe ich dich dafür bewundert, dass du fliehen konntest; dass es dir im Gegensatz zu uns allen immer gelungen ist, die Wahrheit zu verdrängen, die uns alle um den Verstand brachte.
Koba. Es irritiert mich, wie leicht es mir fällt, deinen Namen zu schreiben, bin ich doch sonst kaum in der Lage, ihn zu denken, gar auszusprechen. Vielleicht wissen meine Finger mehr als ich. Vielleicht können sie akzeptieren, was ich noch zu leugnen versuche: Dass alles mit dir begonnen hat. Mit dir hat es begonnen und – ja, mit dir hat es auch geendet. Alles, denke ich manchmal. Manchmal denke ich, meine Welt ist nur wegen dir untergegangen.
Du warst wie der Blick aus einem Zugfenster bei Nacht. Dieses Gefühl, wenn du hinausschaust und in der Finsternis nach Lichtern suchst, an die du deine irrenden, haltlosen Augen heften kannst. Doch irgendwann bleibst du an deinem blassen Spiegelbild hängen und egal, was du tust, du kommst nicht wieder davon los. Dann fragst du dich, wer du bist und warum du tust, was du tust.
Ebenso warst du; so finster, dass man nichts erkennen konnte – nur sich selbst, wenn man dich lang genug angesehen hat. Dich anzusehen war wie in den Spiegel zu sehen. Das habe ich geliebt. Ich habe dich geliebt – das wusstest du immer, von Anfang an. Du hast es nie ausgesprochen, mich nie deswegen verachtet, obwohl du doch jeden Menschen für alles verachtet hast.
Warum also? Ich schreibe, aber ich verstehe es nicht … noch immer nicht. Und ich habe das Gefühl, dass ich diese Geschichte vielleicht an ganz anderer Stelle ansetzen muss. Viel weiter in der Vergangenheit, irgendwo zwischen dir und dem, was dich antrieb, dem, was ich nie verstand.
„Du sieht nur solange, was du sehen möchtest, bis die Vergangenheit dich vollends einholt“, hast du einmal gesagt und nun spüre ich die Wahrheit deiner Worte in jeder Faser meines Körpers, so echt, als wärst du nicht der Überbringer der Botschaft, sondern Schöpfer ihrer Realität. „Die Vergangenheit holt dich immer ein“, hast du gesagt. „Wenn du zu lange vor ihr geflohen bist, vielleicht. Oder wenn du zu lange die Augen vor ihr verschlossen hast, in der Hoffnung, irgendwann würde sie einfach unsichtbar. Ich verrate dir etwas, Schwesterherz: Die Vergangenheit wird nie unsichtbar und sie lässt sich nicht abhängen, egal, wie schnell du zu rennen versuchst. Sie ist ein selbstsüchtiges Biest, das größer und wütender wird, je länger du es ignorierst. Und irgendwann, wenn du deine Augen einfach nicht öffnest, frisst es dich mit Haut und Haar.“