Dieser Text stellt eine Szene dar, die so ähnlich in meinem aktuellen Projekt »Der Geschmack des Krieges« vorkommen wird. Er entstand im Rahmen einer Schreibübung, dem »Schreiben gegen die Zeit« (zu einer bestimmten Uhrzeit gibt es eine Themenvorgabe und die Teilnehmer haben exakt 60 Minuten, um daraus eine Kurzgeschichte oder ein Gedicht zu machen), an der ich nach monatelanger, unfreiwilliger Abstinenz endlich wieder teilgenommen habe.
Thema diesmal: Illusionen
Thema diesmal: Illusionen
Volatile Times
Es war eiskalt.
Seit vier Monaten marschierten wir unter preußischer Flagge. Anfangs war uns ein großer Schlag gelungen, wir hatten Prag besetzt. Der Sturm der Euphorie, der durch unsere zehntausenden Kameraden gegangen war, hatte auch Friedrich und mich erfasst und wir waren guten Mutes, die Österreicher ein für alle Mal von böhmischem und schlesischem Grund zu vertreiben. Aber mit den ersten kalten Winden, die auf unseren Märschen über die kargen Ebenen wehten, schien es, als seien unsere Feinde vom Erdboden verschluckt.
Friedrich lag neben mir, in eine stinkende, grobe Decke gehüllt, und zitterte im Schlaf. Die Nacht war sternenklar, eisige Windböen zogen durch unser Lager, das wir in der Nähe von Pless aufgeschlagen hatten. Ich zog meinen Bruder an mich und legte meine Arme um seine Schultern. Mit seinen sechzehn Jahren war er schmal gebaut, zog geistige Arbeit stets der körperlichen vor und hatte kaum Erfahrung mit Waffen. Es war sein erster Krieg.
Seufzend wandte ich mich ab, beobachtete die Feuerstelle und Anton, der mit mir Wache halten sollte und der zufrieden mit vornüber geneigtem Kopf schlief.
Wäre es nach mir gegangen, hätte ich Friedrich zu Hause gelassen und wäre, wie auch schon vor vier Jahren, allein in den Krieg gezogen. Doch das Geld war knapp und ich hatte die Illusion aufgegeben, der Ernährer der Familie sein zu können. Wäre Vater einmal in seinem Leben vorsichtig gewesen, hätte er die Kerze entzündet, hätte sein Schritt die Treppenstufe nicht verfehlt … Friedrich müsste nicht an meiner Seite sitzen, frieren, hungern und in der Angst eines Überraschungsangriffs leben. Ich müsste nicht in Angst leben. Würde ihn in Sicherheit zu Hause wissen, bei Jacob und Heinrich, die wir in die Obhut des Großmütterchen gegeben hatten, die seit Vaters Tod nach uns sah. Ohnehin standen wir schon lang in ihrer Schuld, sie kümmerte sich um meine kleinen Brüder, als wären es ihre eigenen Kinder, auch wenn sie selbst nicht viel hatte, das sie ihnen geben konnte.
Friedrich regte sich neben mir, schlug die Augen auf.
»Schlaf weiter, du musst dich ausruhen«, sagte ich leise und bemühte mich, das Zittern aus meiner Stimme zu verbannen.
»Ich habe geträumt, die Österreicher greifen unser Lager an. Sie haben erbarmungslos gewütet und es gab so viele Opfer.« Er blickte auf. »Auch dich haben sie getötet.«
Ich strich ihm übers Haar, das er seit seinem Eintritt in die Armee kurz trug. »Das war nur ein Traum. Hier gibt es seit Monaten keine Österreicher mehr. Wahrscheinlich sind sie alle vor unserem König und unserer Truppe fortgelaufen und warten nun in Wien auf uns.«
Damit sprach ich aus, was schon lange unter den Kameraden gemunkelt wurde. Von den acht mal zehntausend Mann, die mit uns den Feldzug im Juli begonnen hatten, waren schon hunderte, wenn nicht tausende Männer desertiert. Hunger, Kälte und die wenigen, doch gezielten Angriffe auf unsere Versorgung hatten ihre Gemüter mürbe gemacht. Der Drang, ihre Familien wiederzusehen oder einfach nur ihre Haut zu retten, war wohl stärker gewesen als der, ruhmreich nach Hause zurückzukehren – allerdings mit der Möglichkeit, vorher im entfernten Schlesien ausgezehrt und mit steif gefrorenen Gliedern eines nachts tot aufgefunden zu werden.
»Ich hab Hunger«, flüsterte Friedrich und wickelte sich fester in seine Decke.
Ich betrachtete ihn für einen Augenblick, erhob mich und legte ihm meine Jacke um die Schultern. »Warte.«
In meiner Tasche, längst verschlissen und unzählige Male geflickt, bewahrte ich eine Notration auf – ein paar Fetzen von getrocknetem Fleisch und ein Stück alten Brotes, von dem ich die kleinen grünlichen Stellen abkratzte.
Als ich mich umwandte, hörte ich entfernt Schüsse und einen wuchtigen Einschlag. Ich ließ den Proviant fallen, griff nach meiner Waffe, stürmte aus dem Zelt. Von Friedrich und Anton fehlte jede Spur, die anderen Kameraden waren in heller Aufregung. Von der Ostseite her drangen Schüsse und Kampflärm, ich rannte los.
»Albrecht!« Mit diesem Schrei wurde ich herumgerissen und zu Boden geworfen. In der nächsten Sekunde schlug etwas Großes mit einem ohrenbetäubenden Knall so dicht neben mir ein, dass ich das Dröhnen des Aufpralls in meinem Körper spürte, die Erde erzitterte unter mir.
Erschrocken rappelte ich mich hoch, blickte mich um, doch neben mir war nichts als ein tiefer Krater und ein zerstörtes Zelt, dessen zersplitterte Holzbalken aus dem Loch ragten.
Friedrich, schoss es mir durch den Kopf und fahrig wandte ich mich in alle Richtungen, suchte die Umgebung ab, es war Friedrichs Stimme gewesen.
»Albrecht, komm! In Deckung!« Ein anderer Kamerad – Jacob oder Johann, ich wusste seinen Namen nicht mehr – griff nach meinem Arm und zerrte mich in Richtung eines alten Baumes, in dessen Schutz er begann, seine Waffe nachzuladen. Ich starrte ihn an, tastete nach meiner eigenen Waffe, die verloren gegangen sein musste, als mich Friedrich …
Ein Zittern erfasste meinen Körper, kalter Schweiß rann meine Stirn und meinen Rücken hinab, hektisch versuchte ich das Geschehen zu erfassen. Die Kameraden, die ihre Ordnung wiedergefunden hatten, die Pferde, die hier und da durchgingen, kleine Feuer, die an unseren Zelten züngelten, aufgewühlte Erde, Lärm, verschwimmende Formen und Linien.
Friedrich … Friedrich war nicht …
»Komm!« Johann oder Jacob – er zerrte wieder an mir, drückte mir seine Pistole in die Hand und bedeutete mir, ihm zu folgen. Ich lief ihm nach.
Die Erde war blutbenetzt.
Friedrich kämpft, redete ich mir ein, als wir über die Löcher und Spurrillen, die Hufspuren und zerborstenen Zelte hinwegsetzten, auf dem Weg zur vorderen Front. Friedrich kämpft!
Bis zum Morgen wollte ich mich dieser Illusion hingeben. Und kämpfen.
04-09-2011
Es war eiskalt.
Seit vier Monaten marschierten wir unter preußischer Flagge. Anfangs war uns ein großer Schlag gelungen, wir hatten Prag besetzt. Der Sturm der Euphorie, der durch unsere zehntausenden Kameraden gegangen war, hatte auch Friedrich und mich erfasst und wir waren guten Mutes, die Österreicher ein für alle Mal von böhmischem und schlesischem Grund zu vertreiben. Aber mit den ersten kalten Winden, die auf unseren Märschen über die kargen Ebenen wehten, schien es, als seien unsere Feinde vom Erdboden verschluckt.
Friedrich lag neben mir, in eine stinkende, grobe Decke gehüllt, und zitterte im Schlaf. Die Nacht war sternenklar, eisige Windböen zogen durch unser Lager, das wir in der Nähe von Pless aufgeschlagen hatten. Ich zog meinen Bruder an mich und legte meine Arme um seine Schultern. Mit seinen sechzehn Jahren war er schmal gebaut, zog geistige Arbeit stets der körperlichen vor und hatte kaum Erfahrung mit Waffen. Es war sein erster Krieg.
Seufzend wandte ich mich ab, beobachtete die Feuerstelle und Anton, der mit mir Wache halten sollte und der zufrieden mit vornüber geneigtem Kopf schlief.
Wäre es nach mir gegangen, hätte ich Friedrich zu Hause gelassen und wäre, wie auch schon vor vier Jahren, allein in den Krieg gezogen. Doch das Geld war knapp und ich hatte die Illusion aufgegeben, der Ernährer der Familie sein zu können. Wäre Vater einmal in seinem Leben vorsichtig gewesen, hätte er die Kerze entzündet, hätte sein Schritt die Treppenstufe nicht verfehlt … Friedrich müsste nicht an meiner Seite sitzen, frieren, hungern und in der Angst eines Überraschungsangriffs leben. Ich müsste nicht in Angst leben. Würde ihn in Sicherheit zu Hause wissen, bei Jacob und Heinrich, die wir in die Obhut des Großmütterchen gegeben hatten, die seit Vaters Tod nach uns sah. Ohnehin standen wir schon lang in ihrer Schuld, sie kümmerte sich um meine kleinen Brüder, als wären es ihre eigenen Kinder, auch wenn sie selbst nicht viel hatte, das sie ihnen geben konnte.
Friedrich regte sich neben mir, schlug die Augen auf.
»Schlaf weiter, du musst dich ausruhen«, sagte ich leise und bemühte mich, das Zittern aus meiner Stimme zu verbannen.
»Ich habe geträumt, die Österreicher greifen unser Lager an. Sie haben erbarmungslos gewütet und es gab so viele Opfer.« Er blickte auf. »Auch dich haben sie getötet.«
Ich strich ihm übers Haar, das er seit seinem Eintritt in die Armee kurz trug. »Das war nur ein Traum. Hier gibt es seit Monaten keine Österreicher mehr. Wahrscheinlich sind sie alle vor unserem König und unserer Truppe fortgelaufen und warten nun in Wien auf uns.«
Damit sprach ich aus, was schon lange unter den Kameraden gemunkelt wurde. Von den acht mal zehntausend Mann, die mit uns den Feldzug im Juli begonnen hatten, waren schon hunderte, wenn nicht tausende Männer desertiert. Hunger, Kälte und die wenigen, doch gezielten Angriffe auf unsere Versorgung hatten ihre Gemüter mürbe gemacht. Der Drang, ihre Familien wiederzusehen oder einfach nur ihre Haut zu retten, war wohl stärker gewesen als der, ruhmreich nach Hause zurückzukehren – allerdings mit der Möglichkeit, vorher im entfernten Schlesien ausgezehrt und mit steif gefrorenen Gliedern eines nachts tot aufgefunden zu werden.
»Ich hab Hunger«, flüsterte Friedrich und wickelte sich fester in seine Decke.
Ich betrachtete ihn für einen Augenblick, erhob mich und legte ihm meine Jacke um die Schultern. »Warte.«
In meiner Tasche, längst verschlissen und unzählige Male geflickt, bewahrte ich eine Notration auf – ein paar Fetzen von getrocknetem Fleisch und ein Stück alten Brotes, von dem ich die kleinen grünlichen Stellen abkratzte.
Als ich mich umwandte, hörte ich entfernt Schüsse und einen wuchtigen Einschlag. Ich ließ den Proviant fallen, griff nach meiner Waffe, stürmte aus dem Zelt. Von Friedrich und Anton fehlte jede Spur, die anderen Kameraden waren in heller Aufregung. Von der Ostseite her drangen Schüsse und Kampflärm, ich rannte los.
»Albrecht!« Mit diesem Schrei wurde ich herumgerissen und zu Boden geworfen. In der nächsten Sekunde schlug etwas Großes mit einem ohrenbetäubenden Knall so dicht neben mir ein, dass ich das Dröhnen des Aufpralls in meinem Körper spürte, die Erde erzitterte unter mir.
Erschrocken rappelte ich mich hoch, blickte mich um, doch neben mir war nichts als ein tiefer Krater und ein zerstörtes Zelt, dessen zersplitterte Holzbalken aus dem Loch ragten.
Friedrich, schoss es mir durch den Kopf und fahrig wandte ich mich in alle Richtungen, suchte die Umgebung ab, es war Friedrichs Stimme gewesen.
»Albrecht, komm! In Deckung!« Ein anderer Kamerad – Jacob oder Johann, ich wusste seinen Namen nicht mehr – griff nach meinem Arm und zerrte mich in Richtung eines alten Baumes, in dessen Schutz er begann, seine Waffe nachzuladen. Ich starrte ihn an, tastete nach meiner eigenen Waffe, die verloren gegangen sein musste, als mich Friedrich …
Ein Zittern erfasste meinen Körper, kalter Schweiß rann meine Stirn und meinen Rücken hinab, hektisch versuchte ich das Geschehen zu erfassen. Die Kameraden, die ihre Ordnung wiedergefunden hatten, die Pferde, die hier und da durchgingen, kleine Feuer, die an unseren Zelten züngelten, aufgewühlte Erde, Lärm, verschwimmende Formen und Linien.
Friedrich … Friedrich war nicht …
»Komm!« Johann oder Jacob – er zerrte wieder an mir, drückte mir seine Pistole in die Hand und bedeutete mir, ihm zu folgen. Ich lief ihm nach.
Die Erde war blutbenetzt.
Friedrich kämpft, redete ich mir ein, als wir über die Löcher und Spurrillen, die Hufspuren und zerborstenen Zelte hinwegsetzten, auf dem Weg zur vorderen Front. Friedrich kämpft!
Bis zum Morgen wollte ich mich dieser Illusion hingeben. Und kämpfen.
04-09-2011