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Er eilte aus der Wohnung und riss seine Jacke vom Haken.
Warum? Warum ausgerechnet James?
Diese Frage stellte er sich in letzter Zeit immer häufiger.
James war ein fähiger, erfolgreicher Physiker gewesen, der an der Schwelle zur endgültigen Beantwortung aller Fragen eines bisher rätselhaften Bereichs in der Physik gestanden hatte - der Zeit. In einer solchen Situation tauchte man doch nicht einfach ab und verschwand spurlos. Immer wieder hatte Christopher überlegt, was ihn dazu bewogen haben konnte. Natürlich war noch die Möglichkeit gegeben, dass er das Opfer eines Verbrechens geworden war, doch hatte es niemals Indizien dafür gegeben.
Christopher musste etwas übersehen haben. Er hatte so ein unbestimmtes Gefühl, das ihn einfach nicht mehr los ließ.
Gedankenverloren lief er durch die Stadt.
Er brauchte Abstand und frische Luft, um den Kopf wieder frei zu bekommen.
Unmerklich schüttelte er den Kopf, als er aus einem offenen Fenster Stimmen hörte. Ein Mann und eine Frau stritten sich. Wie konnte man sich nur um eine offene Zahnpastatube streiten?
Aus einer alten Bar erklang dumpfe Musik. Doch das alles interessierte ihn nicht.
James war das Einzige, das ihn einfach nicht mehr loslassen wollte.
Der plötzlich einsetzende Regen der täglichen Wettersteuerung vertrieb nicht nur den Nebel auf der Straße. Auch die wenigen Passanten drängten sich unter den Vordächern der Häuser. Christopher wurde klatschnass. Ärgerlich blickte er auf seine Uhr. Eigentlich wusste er genau, wann der tägliche Schauer einsetzen würde, doch hatte er nicht darüber nachgedacht, als er das Haus verlassen hatte.
Er stockte und blieb stehen ...
Natürlich!
Einer Eingebung folgend, rannte Christopher schnell zurück zum Haus seiner Eltern.
Warum war ihm das erst jetzt eingefallen? Wenn James etwas hinterlassen hatte, dann musste es einfach dort sein: in ihrem alten Geheimversteck, das sie als Kinder schon immer benutzt hatten.
Ob es noch da war? Früher hatten sie dort ihr Lieblingsspielzeug und andere Schätze versteckt, die ihre Eltern nicht hatten sehen sollen. Als Christopher an ihre alte Centsammlung in dem großen Glas dachte, musste er unwillkürlich lächeln. Wie oft hatten sie beide darum gestritten, was sie mit dem "vielen" Geld machen würden, wenn sie groß wären?
Dieses Mal öffnete er leise die Wohnungstür, damit seine Eltern ihn nicht hörten. Zunächst musste er seine nassen Sachen loswerden. Auf Zehenspitzen lief er zu seinem alten Zimmer, wo er zum Glück immer ein paar Kleidungsstücke zum Wechseln deponiert hatte. Nachdem er sich umgezogen hatte, fühlte er sich besser. Dann schlich er in James Reich, schloss die Tür sorgfältig hinter sich und schaltete das kleine Licht an.
Sein Blick schweifte durch den Raum, der noch immer genau so aussah, wie an dem Tag, als … Nein darüber wollte er jetzt einfach nicht nachdenken. Die Bettdecke lag zurückgeschlagen auf dem Bett. Die Bücher und CDs lagen noch immer verstreut auf dem Fußboden und der Schreibtisch war noch genau so unordentlich. Natürlich hatte sein Bruder eine eigene Wohnung gehabt, aber sein altes Kinderzimmer hatte ihm hier immer als Gästezimmer gedient.
Der seelische Zustand seiner Mutter machte Christopher Sorgen, während er sich hier umsah. Sie weigerte sich seit langem, etwas an diesem Zimmer zu verändern, da sie noch immer auf seine Rückkehr hoffte. Es wurde einfach Zeit, dass er endlich eine zündende Idee hatte, wie er das Rätsel um seinen Bruder lösen konnte. Vorher würde es keiner von ihnen endlich schaffen, loszulassen ...
Der Satz ging ihm noch einmal durch den Kopf: Es wurde einfach Zeit ...
War es nicht kurios? Eben die Zeit war es, mit der sich James immer wieder beschäftigt hatte.
Er riss sich von diesem Gedanken los und lief in den Raum hinein. In der hintersten Ecke musste es diese lose Diele geben.
Nervös kniete er sich hin und schlug den Teppich ein Stück zurück. Christopher kam sich etwas lächerlich vor, wie er - ein erwachsener Mann - hier auf den Knien auf dem Boden hockte und in einem Geheimversteck aus Kindertagen kramen wollte. Was erwartete er eigentlich, zu finden? Er wusste es nicht. Es war einfach die letzte Möglichkeit, die ihm eingefallen war.
"Christopher? Bist du das?", ertönte die Stimme seiner Mutter plötzlich hinter der Tür.
"Nicht jetzt Mutter, bitte", lautete seine kurze Antwort. Hatte er das Zimmer abgeschlossen?
"Was machst du in James Zimmer?"
"Ich sitze hier, um in Ruhe über etwas nachzudenken. Bitte lass' uns später reden."
Christopher wusste, dass es eine Lüge war, aber nur so konnte er sicher gehen, dass seine Mutter keine weiteren Fragen stellen würde.
"Okay, aber fass' bitte nichts an", sagte sie und ließ ihn endlich alleine.
Christopher hatte ihre Antwort gar nicht mehr wahrgenommen und die lose Diele bereits beiseite geschoben. All seine Hoffnungen lagen nun in diesem dunklen Loch.
Vorsichtig tastete er mit seiner Hand nach irgendetwas, das ihm einen Hinweis geben konnte.
James musste ihm etwas hinterlassen haben. Irgendetwas.
Er wollte gerade frustriert aufgeben, als seine Finger etwas Glattes berührten.
Hastig holte er es hervor und schaute es sich genau an. NEIN! Das konnte nicht sein!
Ein Foto? Ein altes Bild? Mehr nicht?
Christopher fing hysterisch an zu lachen. Wieder einmal hatte ihn eine Spur ins Leere geführt.
Nachdem er sich etwas beruhigt hatte, tastete er noch einmal in die dunkle Höhle hinein. Er wollte einfach sichergehen, nichts übersehen zu haben. Plötzlich stutzte er. Da war noch etwas - eine Art Heft. Er verstand nicht, dass er es nicht beim ersten Mal ertastet hatte, und zog es unter dem Dielenboden hervor. Es war tatsächlich ein Heft, wie man es für handschriftliche Notizen benutzte. Es gehörte ohne Zweifel seinem Bruder. Die für ihn größtenteils unleserliche Handschrift war typisch für James.
Christopher setzte sich im Schneidersitz auf den Boden, so, wie er auch früher oft hier gesessen hatte und begann im trüben Licht der kleinen Lampe, in dem Heft zu blättern. Das meiste sagte ihm rein gar nichts, da es sich um Notizen handelte, die mit langen, komplizierten Formeln gespickt waren - zum Teil mit unleserlichen Kommentaren.
Etwa in der Mitte des Heftes schloss ein etwas längerer Text die Notizen ab. Christopher hätte sich gewünscht, dass James wenigstens hin und wieder ein Datum eingetragen hätte, dann hätte man man die Notizen auch zeitlich zuordnen können, doch das hatte er leider nicht getan.
Christoper rückte die kleine Lampe zurecht, um besser sehen zu können und versuchte, etwas von dem Text zu entziffern:
"... Temporalkoeffizient indifferent ... Unschärfe ... Verifikation steht aus.
... trotz Wiederholung ... Quantenmodulation ... Gefahr einer ... "
Christopher versuchte, mehr der Wörter dazwischen zu verstehen, doch sie waren zu undeutlich. Gefahr? Was für eine Gefahr? Es ging hier doch offenbar um die Zeit. Allein die Vorsilbe 'Temporal' machte dies deutlich. Er las weiter:
"... Umkehrung ... Zweifel ... Potentialreserve (?) ... nicht eindeutig bestimmbar ...
... wollen nicht glauben ... sicher ... divergente Strings ..."
Christopher gab auf. Mehr konnte er nicht lesen. Was hatte das zu bedeuten? Immer wieder las er die Zeilen und blieb an dem Wenigen hängen, das er zumindest entziffern konnte. Gefahr? Zweifel? Verifikation steht aus? Er war kein Physiker, aber es schien ihm, als könnte er zwischen den Zeilen herauslesen, dass sein Bruder vielleicht Bedenken gegenüber den Einsatz der Zeittechnologie gehabt haben könnte. Konnte das wirklich sein? Er hatte immer geglaubt, James wäre ein absoluter Verfechter von diesem Zeitreisenzeug gewesen. Vielleicht hatte er es ja auch vollkommen falsch verstanden.
Was aber, wenn er Recht hatte und James bei seinen Forschungen auf Probleme gestoßen war, die ihn zu einem Kurswechsel bewogen hatten? Wenn die Firma jedoch nicht auf ihn hatte hören wollen, weil sie schon viel zu viel in das Projekt investiert hatte? '... wollen nicht glauben ...'
Christopher klappte das Heft zu. Zum ersten Mal hatte er einen möglicherweise konkreten Hinweis. Am Morgen würde er sich auf den Weg machen. Es gab nur einen Ort, an dem er eine befriedigende Antwort auf die Fragen finden konnte, die ihm nun in den Sinn kamen.
Zuletzt von Bloodangel am Sa 29 Aug 2009, 15:09 bearbeitet; insgesamt 3-mal bearbeitet