Der Roman ist die Königsdisziplin der Literatur. Einen Roman zu schreiben verlangt ein großes Maß an Geduld, Disziplin und Durchhaltevermögen. Je besser die Vorbereitung, Planung und Arbeitsweise ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, ein Manuskript zu einem erfolgreichen Ende zu bringen.
Die nachfolgende Abhandlung bezieht sich auf das Schreiben eines historischen Romans. Teile davon lassen sich auch auf andere Genres übertragen. Vielleicht dient sie dem Einen oder der Anderen als Arbeithilfe.
The Making Of oder Wie schreibe ich einen historischen Roman?
1. Authentisch oder fiktional?
Wenn es sich um eine fiktionale Geschichte handelt, bei der Handlung und Personen erfunden sind, ist der Autor sehr frei in seinen Entscheidungen. Es müssen weder historische Personen noch Sachverhalte auftreten. Lediglich das „Setting“ muss stimmen, d.h. man muss dem Stand der Technik, Kultur, Medizin etc. Rechnung tragen und darauf achten, Anachronismen zu vermeiden (eine Dampfmaschine, eine Sinfonie oder eine Blinddarmoperation passen nicht ins 15. Jahrhundert).
Es gibt eine große Bandbreite von Romanen, deren Stories fiktional sind, in denen allerdings Zeitgenossen oder zeitgenössische Ereignisse eine (oftmals entscheidende) Rolle spielen, z.B. Jesus Christus in „Ben Hur“ oder die Machtergreifung Napoleons in „Der Graf von Monte Christo“.
Am anderen Ende des Spektrums steht die authentische Geschichte. Nahezu alle Personen und Ereignisse sind historisch belegt. Ein solcher Roman erfordert allerdings den höchsten Rechercheaufwand und legt gleichzeitig dem Autor Zügel an.
2. Wie finde ich die richtige Persönlichkeit?
Ganz einfach: mit Glück oder nach langem Suchen! Es gibt ein Unzahl an historischen Personen, doch nicht jede Lebensgeschichte ist gleich gut geeignet, um in einem Roman verarbeitet zu werden. Die Vita sollte abwechslungsreich sein oder zumindest auf einen Kulminationspunkt hinauslaufen. Außerdem gehört zu einem Protagonisten (bis auf ganz wenige Ausnahmen, z.B. „Robinson Crusoe“) auch ein Antagonist. Eine Geschichte lebt aus dem Spannungsgeflecht zwischen Held und Antiheld.
Idealerweise schreibt man über eine unbekannte oder wenig bekannte Person. Der 34. Roman über Julius Cäsar wird kaum noch einen Hund hinter dem Ofen hervorlocken. Spannend könnte aber z.B. ein Roman über seinen Sekretär sein.
3. Recherchen und Nachforschungen
Das erste Mittel der Wahl ist – natürlich – das WWW. Wikipedia und wissen.de sind dabei gute Startplätze, denn sie bieten viele Allgemeininformationen und populärwissentschaftliches Material (Namen, Geburtstage, historische Daten von z.B. Schlachten, Krönungen, Erfindungen & Entdeckungen, Genealogien, Fotos von Orten, Gebäuden und Landschaften etc.).
Das zweite Mittel der Wahl sind Bibliotheken, digital oder real. Eine sehr gute Quelle ist die Deutsche National Bibliothek (www.d-nb.de) mit ihrem Stichwortverzeichnis, ferner amazon, libri usw. Um einen fundierten historischen Roman zu schreiben, wird man kaum umhinkommen, „richtige“ Bücher zu wälzen (Biographien und Chroniken, Sach- und Fachliteratur).
=> Praxisbeispiel:
Mein Roman „Der Diplomat“ beschreibt das Leben des Freiherrn Johann Christian von Hofenfels (1744 – 1787). Bei meinen Recherchen habe ich entdeckt, dass 1934 in München eine Dissertation über diesen Mann vorgelegt worden war. Einen Druck dieser Dissertation fand ich (online!!) in einem Antiquariat in Stuttgart, wo ich das Buch für 25,- Euro bestellte; drei Tage später brachte es der Postbote. Diese Dissertation wurde zur Hauptquelle für meinen Roman.
Das dritte Mittel der Wahl sind Experten, die es für alles und jeden gibt. Sachbuchautoren eignen sich sehr gut, aber auch Spezialisten, die man z.B. über das Branchenbuch oder auch über Google finden kann. Ein Autor sollte sich niemals scheuen zu fragen! Es ist erstaunlich, wie gerne Menschen über ihre Fachgebiete oder Hobbies berichten, wenn man ihnen die Gelegenheit dazu gibt („Guten Tag, ich bin Schriftsteller und ich recherchiere für mein neues Buch ...“).
Viertens, schließlich, ist es immer hilfreich, die Orte der Handlung zu besuchen und persönlich in Augenschein zu nehmen, sofern man die Möglichkeit dazu hat. So kennt man die Gegebenheiten und kann z.B. die Wirkung, das Flair oder den Geruch eines Ortes besser beschreiben.
4. Das A und O
Alpha und Omega – Anfang und Ende – der Story, d.h. der zeitliche Rahmen werden zu Beginn festgelegt. Nun ist es hilfreich, alle historischen Ereignisse in eine Chronologie (z.B. Excel-Tabelle) einzutragen. Die Story muss an dieser Chronologie entlanglaufen und der „zeitlichen Logik“ folgen, damit nicht z.B. Auswirkungen eines Ereignisses beschrieben werden, bevor dieses Ereignis eingetreten ist.
5. Plausibilität / Authentizität
Vor zweihundert Jahren gab es noch keinen elektrischen Strom. Diese Tatsache hat einen ganz erheblichen Einfluss auf den historischen Roman. Alles, absolut alles, was mit Strom funktioniert, gab es damals noch nicht. Diesen Sachverhalt muss man sich STETS UND IMMER WIEDER vor Augen halten!!!
Beispiele gefällig?
Wenn man im Jahr 1785 um Mitternacht nach Hause kommt und die Haustür aufschließt, KANN MAN NICHT DAS LICHT EINSCHALTEN !!! Da die Streichhölzer noch nicht erfunden sind, wird schon diese Kleinigkeit mangels Elektrizität zum Problem.
Eine Reisekutsche ist NICHT BEHEIZT. Wenn man im Januar zwei Wochen unterwegs ist, ist das Reisen eine verdammt kalte Angelegenheit.
Ohne Elektrizität werden alle Entfernungen größer und alle Zeiträume strecken sich.
=> Praxisbeispiel:
Am Silvestervorabend 1777 stirbt der bayerische Kurfürst Maximilian in München. Diese Ereignis hat politisches Gewicht. Zwei Tage später gibt der Kaiser in Wien einen Neujahrsempfang. Diskutiert man am Hof über den Tod des Kurfürsten?
Um diese Frage zu beantworten, rief ich jemanden an, der eigene Pferde besitzt und stellte ihm folgende Frage: „Stell Dir vor, Du bist ein berittener Kurier. Es ist Silvester, die Befestigung der Straßen ist mäßig und sie sind verschneit. Du musst eine Nachricht von München ins 400 Kilometer entfernte Wien bringen. Schaffst Du das in anderthalb Tagen?“ Seine Antwort: „Auf keinen Fall, unmöglich!“
Ergo: Obwohl der Kurfürst zwei Tage zuvor verstorben war, wusste man das am kaiserlichen Hof noch nicht!
Die Übermittlung von Nachrichten und das Überbrücken von Entfernungen spielen sich in ganz anderen Dimensionen ab als heute. Ebenso verhielt es sich mit der Medizin. Selbst ein kariöser Zahn konnte tödlich sein. Die Narkose war noch nicht erfunden und Operationen waren kaum möglich. Eine Blinddarmentzündung war ein Todesurteil! Man kannte weder Körperhygiene noch Antibiotika.
Um einen historischen Roman authentisch zu schreiben, ist es unabdingbar, in die beschriebene Zeit einzutauchen. Man sollte immer wieder einmal die Augen schließen und sich – am besten bei jeder Frage – vorstellen und einfühlen, wie es damals gewesen war, ohne Strom, ohne Auto, ohne Handy etc.
6. Sprache
Dass man früher anders sprach als heute, weiß jeder. Die Leser aber leben heute und sprechen die aktuelle Sprache. Deshalb ist es wichtig, „lesbar“ zu schreiben. Man sollte versuchen, das Flair von damals auch sprachlich einzufangen, aber nicht die Sprache von damals eins-zu-eins übernehmen. Bis zum späten Mittelalter müsste man dann sowieso in Latein schreiben.
Auf der anderen Seite ist es wichtig, die Worte auf ihre Tauglichkeit hin zu überprüfen. Ein historischer Roman kommt ohne Anglizismen aus. Kein Ritter ist „cool“, kein Edelmann hat ein „Hobby“ und kein Held nennt seine Freundin „Baby“. Vom 16. bis zum späten 19. Jahrhundert funktionieren am ehesten noch französische Ausdrücke, denn das war die Sprache der Gesellschaft und der Politik/Diplomatie.
Außerdem müssen selbst deutsche oder fremdsprachliche Ausdrücke daraufhin überprüft werden, ob sie zeitgemäß sind!
=> Praxisbeispiel: Ein Ritter-Roman ( ca. 11. Jh.)
Auf dem Turnierplatz herrschte atemlose Stille. Nur noch Sir Barkley und der Schwarze Ritter waren übrig und die Zuschauer waren elektrisiert von dem Schauspiel, das sich ihnen bot. Die knisternde Spannung entlud sich in einem ohrenbetäubenden, tausendkehligen Schrei, als ob ein riesiger Dampfkessel explodiert sei, während die Reiter ihren Pferden die Sporen gaben. Mit gesenkten Lanzen jagten sie aufeinander zu. Sir Barkley wusste, dass neben der Kraft seines Armes die Geschwindigkeit seines Pferdes ausschlaggebend war, und er gab mächtig Gas. Von den Hufen seines Hengstes spritzten Millionen winziger roter Sandkörner wie Blutkörperchen auf, während er in fliegendem Galopp auf den Schwarzen Ritter zuhielt ...
Unpassend sind hier folgende Ausdrücke: elektrisiert, Dampfkessel, er gab mächtig Gas, Blutkörperchen – all das war im Mittelalter unbekannt.
7. Detailtreue / Qualität
In einem historischen Roman, so scheint mir, ist Detailtreue noch wichtiger als in anderen. Früher war alles anders als heute und „anders“ bedeutet tatsächlich: jede Kleinigkeit.
Bis zum 19. Jahrhundert verwendete die Gesellschaft ausschließlich Silberbesteck, denn Edelstahl war noch nicht erfunden und deshalb wurde Spargel mit den bloßen Fingern gegessen! Vor dem 15. Jahrhundert war der Gebrauch der Gabel bei Tisch noch völlig unbekannt.
Wenn man in den deutschen Landen unterwegs war, zahlte man hier mit Gulden, dort mit Talern und woanders mit Dukaten.
Den Rubin kannte man im Mittelalter noch nicht, sondern nur Karfunkel, der Sammelbegriff für Rubine, Granate und Spinelle.
William Shakespeare trank seinen Tee nicht aus Porzellantassen (es sei denn, sie stammten aus China), weil deren Herstellung in Europa noch unbekannt war
Usw., usw., usw.
Die Qualität des historischen Romans hängt auch davon ab, wie sorgfältig man recherchiert. Je mehr Aufwand man auch für die kleinen Dinge entwickelt, desto weiter steigt die Qualität. Man sollte sich davor hüten, einen (heute alltäglichen) Sachverhalt als gegeben anzunehmen, ohne ihn tatsächlich auf Plausibilität und Authentizität überprüft zu haben, z.B.: konnte Jeanne d´Arc lesen und schreiben?
8. Quellen
Ein Roman ist ein belletristisches, aber kein wissenschaftliches Werk. Eine detaillierte Quellenangabe (Fußnoten und/oder Glossar) sind deshalb nicht nötig und auch nicht üblich. Trotzdem hat man die Freiheit, z.B. in einem Nachwort auf die verwendeten Quellen hinzuweisen. Die meisten Personen, die dem Autor bei der Beantwortung von historischen Fragen behilflich waren, freuen sich darüber, wenn man sie am Ende namentlich erwähnt.
Findet man zu einem Sachverhalt oder zu einer Person verschiedene Quellen, die sich gegenseitig widersprechen, sollte man in erster Linie seine Story im Auge behalten und eine nach dem gesunden Menschenverstand logische Entscheidung treffen.
9. Zeitaufwand
Der Zeitaufwand für einen historischen Roman ist nicht zu unterschätzen! Wenn man wirklich sorgfältig recherchiert, kommt man mit „ein paar Wochen“ nicht aus. Legt man für eine Manuskriptseite eine Stunde schreiben (incl. Korrektur/Überarbeitung) und eine Stunde Recherche zugrunde, benötigt man für einen 500-Seiten-Roman bereits 1.000 Stunden. Arbeitet man von Montag bis Freitag täglich zwei Stunden an seinem Manuskript, kommt man bereits auf 100 Wochen – circa zwei Jahre!!!
Ein fundierter und sauber recherchierter historischer Roman ist eine gewaltige Arbeit. Man sollte sich vorher sehr genau überlegen, ob man sich die Arbeit zutraut und zumuten will. In keinem anderen Genre ist der Aufwand so hoch, aber nach meiner Meinung ist auch die Arbeit in keinem anderen Genre so spannend. Wer eine ausgeprägte detektivische Ader sein Eigen nennt, möge getrost eine Reise in die Vergangenheit unternehmen und uns davon berichten ...
Ralf
Die nachfolgende Abhandlung bezieht sich auf das Schreiben eines historischen Romans. Teile davon lassen sich auch auf andere Genres übertragen. Vielleicht dient sie dem Einen oder der Anderen als Arbeithilfe.
The Making Of oder Wie schreibe ich einen historischen Roman?
1. Authentisch oder fiktional?
Wenn es sich um eine fiktionale Geschichte handelt, bei der Handlung und Personen erfunden sind, ist der Autor sehr frei in seinen Entscheidungen. Es müssen weder historische Personen noch Sachverhalte auftreten. Lediglich das „Setting“ muss stimmen, d.h. man muss dem Stand der Technik, Kultur, Medizin etc. Rechnung tragen und darauf achten, Anachronismen zu vermeiden (eine Dampfmaschine, eine Sinfonie oder eine Blinddarmoperation passen nicht ins 15. Jahrhundert).
Es gibt eine große Bandbreite von Romanen, deren Stories fiktional sind, in denen allerdings Zeitgenossen oder zeitgenössische Ereignisse eine (oftmals entscheidende) Rolle spielen, z.B. Jesus Christus in „Ben Hur“ oder die Machtergreifung Napoleons in „Der Graf von Monte Christo“.
Am anderen Ende des Spektrums steht die authentische Geschichte. Nahezu alle Personen und Ereignisse sind historisch belegt. Ein solcher Roman erfordert allerdings den höchsten Rechercheaufwand und legt gleichzeitig dem Autor Zügel an.
2. Wie finde ich die richtige Persönlichkeit?
Ganz einfach: mit Glück oder nach langem Suchen! Es gibt ein Unzahl an historischen Personen, doch nicht jede Lebensgeschichte ist gleich gut geeignet, um in einem Roman verarbeitet zu werden. Die Vita sollte abwechslungsreich sein oder zumindest auf einen Kulminationspunkt hinauslaufen. Außerdem gehört zu einem Protagonisten (bis auf ganz wenige Ausnahmen, z.B. „Robinson Crusoe“) auch ein Antagonist. Eine Geschichte lebt aus dem Spannungsgeflecht zwischen Held und Antiheld.
Idealerweise schreibt man über eine unbekannte oder wenig bekannte Person. Der 34. Roman über Julius Cäsar wird kaum noch einen Hund hinter dem Ofen hervorlocken. Spannend könnte aber z.B. ein Roman über seinen Sekretär sein.
3. Recherchen und Nachforschungen
Das erste Mittel der Wahl ist – natürlich – das WWW. Wikipedia und wissen.de sind dabei gute Startplätze, denn sie bieten viele Allgemeininformationen und populärwissentschaftliches Material (Namen, Geburtstage, historische Daten von z.B. Schlachten, Krönungen, Erfindungen & Entdeckungen, Genealogien, Fotos von Orten, Gebäuden und Landschaften etc.).
Das zweite Mittel der Wahl sind Bibliotheken, digital oder real. Eine sehr gute Quelle ist die Deutsche National Bibliothek (www.d-nb.de) mit ihrem Stichwortverzeichnis, ferner amazon, libri usw. Um einen fundierten historischen Roman zu schreiben, wird man kaum umhinkommen, „richtige“ Bücher zu wälzen (Biographien und Chroniken, Sach- und Fachliteratur).
=> Praxisbeispiel:
Mein Roman „Der Diplomat“ beschreibt das Leben des Freiherrn Johann Christian von Hofenfels (1744 – 1787). Bei meinen Recherchen habe ich entdeckt, dass 1934 in München eine Dissertation über diesen Mann vorgelegt worden war. Einen Druck dieser Dissertation fand ich (online!!) in einem Antiquariat in Stuttgart, wo ich das Buch für 25,- Euro bestellte; drei Tage später brachte es der Postbote. Diese Dissertation wurde zur Hauptquelle für meinen Roman.
Das dritte Mittel der Wahl sind Experten, die es für alles und jeden gibt. Sachbuchautoren eignen sich sehr gut, aber auch Spezialisten, die man z.B. über das Branchenbuch oder auch über Google finden kann. Ein Autor sollte sich niemals scheuen zu fragen! Es ist erstaunlich, wie gerne Menschen über ihre Fachgebiete oder Hobbies berichten, wenn man ihnen die Gelegenheit dazu gibt („Guten Tag, ich bin Schriftsteller und ich recherchiere für mein neues Buch ...“).
Viertens, schließlich, ist es immer hilfreich, die Orte der Handlung zu besuchen und persönlich in Augenschein zu nehmen, sofern man die Möglichkeit dazu hat. So kennt man die Gegebenheiten und kann z.B. die Wirkung, das Flair oder den Geruch eines Ortes besser beschreiben.
4. Das A und O
Alpha und Omega – Anfang und Ende – der Story, d.h. der zeitliche Rahmen werden zu Beginn festgelegt. Nun ist es hilfreich, alle historischen Ereignisse in eine Chronologie (z.B. Excel-Tabelle) einzutragen. Die Story muss an dieser Chronologie entlanglaufen und der „zeitlichen Logik“ folgen, damit nicht z.B. Auswirkungen eines Ereignisses beschrieben werden, bevor dieses Ereignis eingetreten ist.
5. Plausibilität / Authentizität
Vor zweihundert Jahren gab es noch keinen elektrischen Strom. Diese Tatsache hat einen ganz erheblichen Einfluss auf den historischen Roman. Alles, absolut alles, was mit Strom funktioniert, gab es damals noch nicht. Diesen Sachverhalt muss man sich STETS UND IMMER WIEDER vor Augen halten!!!
Beispiele gefällig?
Wenn man im Jahr 1785 um Mitternacht nach Hause kommt und die Haustür aufschließt, KANN MAN NICHT DAS LICHT EINSCHALTEN !!! Da die Streichhölzer noch nicht erfunden sind, wird schon diese Kleinigkeit mangels Elektrizität zum Problem.
Eine Reisekutsche ist NICHT BEHEIZT. Wenn man im Januar zwei Wochen unterwegs ist, ist das Reisen eine verdammt kalte Angelegenheit.
Ohne Elektrizität werden alle Entfernungen größer und alle Zeiträume strecken sich.
=> Praxisbeispiel:
Am Silvestervorabend 1777 stirbt der bayerische Kurfürst Maximilian in München. Diese Ereignis hat politisches Gewicht. Zwei Tage später gibt der Kaiser in Wien einen Neujahrsempfang. Diskutiert man am Hof über den Tod des Kurfürsten?
Um diese Frage zu beantworten, rief ich jemanden an, der eigene Pferde besitzt und stellte ihm folgende Frage: „Stell Dir vor, Du bist ein berittener Kurier. Es ist Silvester, die Befestigung der Straßen ist mäßig und sie sind verschneit. Du musst eine Nachricht von München ins 400 Kilometer entfernte Wien bringen. Schaffst Du das in anderthalb Tagen?“ Seine Antwort: „Auf keinen Fall, unmöglich!“
Ergo: Obwohl der Kurfürst zwei Tage zuvor verstorben war, wusste man das am kaiserlichen Hof noch nicht!
Die Übermittlung von Nachrichten und das Überbrücken von Entfernungen spielen sich in ganz anderen Dimensionen ab als heute. Ebenso verhielt es sich mit der Medizin. Selbst ein kariöser Zahn konnte tödlich sein. Die Narkose war noch nicht erfunden und Operationen waren kaum möglich. Eine Blinddarmentzündung war ein Todesurteil! Man kannte weder Körperhygiene noch Antibiotika.
Um einen historischen Roman authentisch zu schreiben, ist es unabdingbar, in die beschriebene Zeit einzutauchen. Man sollte immer wieder einmal die Augen schließen und sich – am besten bei jeder Frage – vorstellen und einfühlen, wie es damals gewesen war, ohne Strom, ohne Auto, ohne Handy etc.
6. Sprache
Dass man früher anders sprach als heute, weiß jeder. Die Leser aber leben heute und sprechen die aktuelle Sprache. Deshalb ist es wichtig, „lesbar“ zu schreiben. Man sollte versuchen, das Flair von damals auch sprachlich einzufangen, aber nicht die Sprache von damals eins-zu-eins übernehmen. Bis zum späten Mittelalter müsste man dann sowieso in Latein schreiben.
Auf der anderen Seite ist es wichtig, die Worte auf ihre Tauglichkeit hin zu überprüfen. Ein historischer Roman kommt ohne Anglizismen aus. Kein Ritter ist „cool“, kein Edelmann hat ein „Hobby“ und kein Held nennt seine Freundin „Baby“. Vom 16. bis zum späten 19. Jahrhundert funktionieren am ehesten noch französische Ausdrücke, denn das war die Sprache der Gesellschaft und der Politik/Diplomatie.
Außerdem müssen selbst deutsche oder fremdsprachliche Ausdrücke daraufhin überprüft werden, ob sie zeitgemäß sind!
=> Praxisbeispiel: Ein Ritter-Roman ( ca. 11. Jh.)
Auf dem Turnierplatz herrschte atemlose Stille. Nur noch Sir Barkley und der Schwarze Ritter waren übrig und die Zuschauer waren elektrisiert von dem Schauspiel, das sich ihnen bot. Die knisternde Spannung entlud sich in einem ohrenbetäubenden, tausendkehligen Schrei, als ob ein riesiger Dampfkessel explodiert sei, während die Reiter ihren Pferden die Sporen gaben. Mit gesenkten Lanzen jagten sie aufeinander zu. Sir Barkley wusste, dass neben der Kraft seines Armes die Geschwindigkeit seines Pferdes ausschlaggebend war, und er gab mächtig Gas. Von den Hufen seines Hengstes spritzten Millionen winziger roter Sandkörner wie Blutkörperchen auf, während er in fliegendem Galopp auf den Schwarzen Ritter zuhielt ...
Unpassend sind hier folgende Ausdrücke: elektrisiert, Dampfkessel, er gab mächtig Gas, Blutkörperchen – all das war im Mittelalter unbekannt.
7. Detailtreue / Qualität
In einem historischen Roman, so scheint mir, ist Detailtreue noch wichtiger als in anderen. Früher war alles anders als heute und „anders“ bedeutet tatsächlich: jede Kleinigkeit.
Bis zum 19. Jahrhundert verwendete die Gesellschaft ausschließlich Silberbesteck, denn Edelstahl war noch nicht erfunden und deshalb wurde Spargel mit den bloßen Fingern gegessen! Vor dem 15. Jahrhundert war der Gebrauch der Gabel bei Tisch noch völlig unbekannt.
Wenn man in den deutschen Landen unterwegs war, zahlte man hier mit Gulden, dort mit Talern und woanders mit Dukaten.
Den Rubin kannte man im Mittelalter noch nicht, sondern nur Karfunkel, der Sammelbegriff für Rubine, Granate und Spinelle.
William Shakespeare trank seinen Tee nicht aus Porzellantassen (es sei denn, sie stammten aus China), weil deren Herstellung in Europa noch unbekannt war
Usw., usw., usw.
Die Qualität des historischen Romans hängt auch davon ab, wie sorgfältig man recherchiert. Je mehr Aufwand man auch für die kleinen Dinge entwickelt, desto weiter steigt die Qualität. Man sollte sich davor hüten, einen (heute alltäglichen) Sachverhalt als gegeben anzunehmen, ohne ihn tatsächlich auf Plausibilität und Authentizität überprüft zu haben, z.B.: konnte Jeanne d´Arc lesen und schreiben?
8. Quellen
Ein Roman ist ein belletristisches, aber kein wissenschaftliches Werk. Eine detaillierte Quellenangabe (Fußnoten und/oder Glossar) sind deshalb nicht nötig und auch nicht üblich. Trotzdem hat man die Freiheit, z.B. in einem Nachwort auf die verwendeten Quellen hinzuweisen. Die meisten Personen, die dem Autor bei der Beantwortung von historischen Fragen behilflich waren, freuen sich darüber, wenn man sie am Ende namentlich erwähnt.
Findet man zu einem Sachverhalt oder zu einer Person verschiedene Quellen, die sich gegenseitig widersprechen, sollte man in erster Linie seine Story im Auge behalten und eine nach dem gesunden Menschenverstand logische Entscheidung treffen.
9. Zeitaufwand
Der Zeitaufwand für einen historischen Roman ist nicht zu unterschätzen! Wenn man wirklich sorgfältig recherchiert, kommt man mit „ein paar Wochen“ nicht aus. Legt man für eine Manuskriptseite eine Stunde schreiben (incl. Korrektur/Überarbeitung) und eine Stunde Recherche zugrunde, benötigt man für einen 500-Seiten-Roman bereits 1.000 Stunden. Arbeitet man von Montag bis Freitag täglich zwei Stunden an seinem Manuskript, kommt man bereits auf 100 Wochen – circa zwei Jahre!!!
Ein fundierter und sauber recherchierter historischer Roman ist eine gewaltige Arbeit. Man sollte sich vorher sehr genau überlegen, ob man sich die Arbeit zutraut und zumuten will. In keinem anderen Genre ist der Aufwand so hoch, aber nach meiner Meinung ist auch die Arbeit in keinem anderen Genre so spannend. Wer eine ausgeprägte detektivische Ader sein Eigen nennt, möge getrost eine Reise in die Vergangenheit unternehmen und uns davon berichten ...
Ralf