Brief I
Brief II
Brief III
1.5.08
An die 30-jährige Julianne,
du fragst dich sicher, warum ich dir diesen Brief schreibe. Ich habe einmal ein Buch gelesen, wo ein Psychologe einer Alkoholabhängigen empfohlen hat, einen Brief an ihr älteres Selbst zu schreiben, um sich ihrer Gedanken klar zu werden. Jahre später schreibe ich dir selbst so einen Brief, weil ich finde, dass es eine gute Idee ist. Es ist sicher interessant, 15 Jahre später diesen Brief zu öffnen und zu erfahren, was die 15-jährige Julianne, „Ich“ für Gedanken hatte. Denn in 15 Jahren gibt es die Julianne, also mich nicht mehr. Denn die 30-jährige Julianne wird eine komplett andere Person sein, mit anderen Gedanken und Gefühlen, sie wird Situationen ihres Lebens, in meiner Vergangenheit und in ihrer Vergangenheit, die dann meine Zukunft sind, aus einer anderen Sicht sehen.
So wird noch etwas von mir für dich da sein. Erinnerungen und dieser Brief, denn du dann in deinen Händen halten wirst.
Ich frage mich, wie es dir geht. Ich frage mich, ob du glücklich bist oder unglücklich. Wie deine Vergangenheit, also meine Zukunft aussehen wird. Schade, dass ich, die 15-jährige Julianne, ich, es nie erfahren wird.
Vielleicht wunderst du dich, warum ich sage, dass du nicht einfach mein zukünftiges Selbst bist.
Ich gebe dir ein Beispiel: Die 17-jährige Julianne ist glücklich mit Roberto zusammen. Die 17-jährige Julianne betrachtet die Beziehung als etwas Schönes. Die 19-jährige Julianne nicht, denn sie weiß, dass Roberto sie damals mit Jessica betrogen hat und die Beziehung nicht wirklich eine war.
Oder ein anderes Beispiel. Ein glücklicher, lebensfroher 21-jähriger Mann zieht in den Krieg, 7 Jahre später ist der Mann 28 Jahre alt und nicht mehr derjenige, der er war, da der Krieg seine ganze Persönlichkeit, sein ganzes Leben verändert hat.
Das meine ich, man ist mehr derselbe, der man einst war.
Die Zeit ist etwas Ungewöhnliches...und etwas Schwieriges..und sie verändert einen.
Ich will dir jetzt mal was von mir erzählen…denn irgendwann wird es mich nicht mehr geben.
Ich bin, wie du schon weißt, 15 Jahre alt und habe das Gefühl, keiner kennt mich und keiner weiß, wie ich fühle. Niemand kann mir helfen, niemand kann mir zur Seite stehen. Meiner besten Freundin, der ich erzählt habe, warum es mir nicht gut geht, fällt nichts anderes ein, als zu sagen: „Mhm..sonst noch was?“ Ich weiß, dass sie versucht, für mich da zu sein, aber sie kann es nicht.
Ich möchte verhindern, dass es dir so auch gehen wird, daher will ich dir sagen, dass ich an dich denke, ich kenne dich, zumindestens einen Teil deiner Vergangenheit, dein 15-jähriges „Ich“. Ich hoffe, du schaffst es, das, was sich „Leben“ nennt, zu bewältigen. Ich hoffe, du wirst an dich glauben, so wie ich jetzt an mich glaube. Manchmal muss man Teile seines Weges alleine gehen, weil niemand mehr für einen da ist, aber es wird immer ein Lichtpunkt geben, wenn auch nur in der Ferne. Irgendwann geht man wieder Wege seines Lebens zusammen. Mit Leuten, die man liebt und denen man vertraut. Auch wenn diese Zeiten noch weit weg von einem sind, sind sie da. Daran glaube ich und ich wünsche mir, dass du auch daran glaubst.
Viel Glück auf all deinen weiteren Wegen,
Die 15-jährige Julianne
Zuletzt von Lea am Sa 27 Sep 2008, 23:11 bearbeitet; insgesamt 2-mal bearbeitet