Es gibt Tage, da wacht man Morgens auf und möchte am liebsten sterben. Kein einziger Funken Lebenswillen ist mehr in dir, die Welt ist trist und grau. Jeder Schritt bringt nur noch mehr Schmerz in deine zu tiefst geschundene Seele die schon so sehr vor Blut trieft, dass man kaum noch die tiefen Narben sehen kann die dein Leben ihr zugefügt hat. Wenn nicht noch etwas wäre, was dich im Leben festhällt, du hättest längst den letzten Schritt gemacht. Aber du hast es ja versprochen. Du hast geschworen zu Leben...und dieses Versprechen niemals zu vergessen.
Ich erinnere mich gut an diesen einen Tag in meinem Leben. Es war ein Tag, kurz vor meinem siebten Geburtstag. Die Mobbingattacken meiner Klassenkamaraden hatten mich nach 2 Wochen Gnadenfrist in denen ich krank zuhause gelegen hatte, mal wieder brutal auf den Boden der Tatsachen zurück gerissen. Ich war nichts wert, niemand konnte mich leiden, ich war das letzte. Und so fühlte ich mich auch.
Ich erinnere mich, dass ich mich an diesem Tag in meinem Zimmer zurück gezogen hatte und Mom sich große Sorgen um mich machte. Allerdings war sprechen damals nichts, was mir besonders lag. Ich konnte nicht erklären was in meiner Seele vor sich ging, was eigentlich nur hieß dass ich es nicht wollte, da ich nicht willens war, das jemand sah wie schwach ich eigentlich bin. Und da ich nicht mit ihr reden wollte, blieb ihr nichts anderes übrig als mich in meinem Zimmer vor mich hin weinen zu lassen. Ich weinte viel in dieser Zeit. Aber bei weiten nicht so viel, wie ich ab meinem 7. Geburtstag weinen sollte. Ich war nur ein Kind damals. Und das waren also die letzten Tage meiner "Kindheit" die so oder so niemals eine gewesen war. Man hatte mich nie wirklich Kind sein lassen.
Von klein auf war ich immer anders gewesen. Das einzige Patchwork Kind mit einem Rudel sehr viel älterer Geschwister, umgeben von eigebildeten Einzelkindern, Vorzeigefamilien. Ein neugieriges aber unendlich schüchternes Kind, dass nicht in der Lage war sich Namen zu merken, und nicht einmal mit seiner eigenen Großmutter sprach, geschweige denn mit anderen Kindern. Ich war schon immer anders. Ich bin geboren, um anders zu sein.
Namen waren nie wichtig. Menschen mit denen ich reden wollte, waren immer nur "du." Das reichte für mich. Es war interessanter die Welt um mich zu verstehen. Zu erleben wie sie funktioniert, und was sie im innersten zusammen hällt. Ich wollte lernen, verstehen. So vieles, damals schon. Ich lernte Bücher die man mir vorlas beim zuhören auswendig, nahm sie und "las" einfach vor. Wortgenau, und dass obwohl ich keinen einzelnen Buchstaben auf den Seiten zu entziffern in der Lage war. Ich habe die Erwachsenen mit meinem fast unglaubwürdigen Gedächtnis erstaunt. Aber meine Eltern hatten stets andere Probleme, als sich um meine offensichtliche Hochbegabung zu kümmern. Und so blieb ich, Zeit meines Lebens, ein unverstandener Außenseiter. Ein ewiges Opfer für Spott und Hohn, dessen Seele bereits in jungen Jahren nur zu offensichtlich stark geschwunden wurde. Allerdings war ich in älteren Jahren auch nie bereit hilfe anzunehmen.
Es gab also diesen einen Tag, an dem ich mich klein und unbrauchbar für die Welt fühlte, Gedankengänge vollzog die meine Gefühlswelt durcheinander brachten. Denn egal auf welcher hohen Ebene ich damals bereits zu denken in der Lage war, meine Gefühle waren die eines Kindes, und die kamen mit dem allen lange nicht zurecht. Was nur dazu beitrug, mich noch schlechter zu fühlen. Ich kam mir krank und falsch auf dieser Welt vor.
Es ging dir auch sehr schlecht damals. Die Dinge liefen nicht so, wie du dir es vorgestellt hattest. Mit meiner Mutter lief es nicht gut, mein Bruder hasste dich, dein eigener Sohn hatte Probleme einen Ausbildungsplatz zu finden, und meine Schwester war schwer depressiv, suizidgefährdet, und lies sich das im Gegensatz zu dir auch anmerken. Ich bekam es nicht mit. Heute weiß ich, dass sie sich ritzte, sich mehr als einmal fast ihr Leben nahm. Ich weiß dass ich das nicht verkraftet hätte, denn sie war es die mich dazu brachte immer weiter zu machen, zu lachen. Sie gab mir immer Kraft, egal wie schlecht es mir ging. Es ist schon ironisch, dass ich heute kaum noch Kontakt zu ihr habe, sondern nur noch zu dem Bruder, mit dem ich am allerwenigsten klar kam, mit dem ich mich früher jeden Tag nur angelegt und gezofft, geprügelt hatte.
Ich erinnere mich, dass du an diesem Tag zu mir in mein Zimmer gekommen bist. Du hast mich gesehen, wie ich mit angewinkelten Beinen vor meinem Bett saß, und meine Knie unters Kinn gepresst hatte. Weich und verletzt. Und als du versuchtest mich an der Schulter zu berühren, mir irgendwie halt zu geben bin ich von dir Weg gerutscht. Ich erinnere mich gut, denn dieser Moment hat sich so tief in meinen Kopf eingebrannt. Wenige Tage zuvor warst du sehr ausgerastet, hattest das Telefon aus der Leitung gerissen, Bilder an die Wand geschmissen, und das Auto gegen eine Mauer gefahren. Zu deinem bedauern, ohne dass dir dabei etwas passiert war. Ich hatte schreckliche Angst vor dir. Meinem eigenen Vater. Jedenfalls glaubte ich damals, dass du das warst.
"Du brauchst keine Angst haben. Ich bin sowieso bald weg.", Diese Worte, sie haben sich so tief in meinem Kopf eingebrannt, sie werden mich mein Leben lang begleiten, und ich werde diese Situation nie wieder vergessen. Genau wie ich diesen einen Tag nie wieder vergessen werde.
"Du musst mir etwas versprechen. Egal was in deinem Leben jemals passiert, wie schwach du dich auch fühlst, und wie schlecht es dir geht. Du darfst nicht aufgeben. Du musst weiter leben. Für die Menschen die du liebst, und die dich, egal wie sehr du auch daran zweifelst, genau so bedingungslos lieben, wie du es tust. Ich weiß du bist schon groß, und du verstehst was ich damit sagen möchte. Du musst mir das versprechen. Und du darfst dieses Versprechen niemals vergessen. Lebe. Tu es für mich.", Ich hatte damals ein sehr festes Band zu dir, wie ich es zu niemand anderem hatte. Und ich versprach es dir an jenem Tag. Ich versprach dir, dass ich Leben würde. Und dass ich dieses Versprechen niemals vergesse. Ich versprach es dir, als meinem Vater.
Wenige Tage später sollte ich verstehen, warum du mir dieses Versprechen abgenommen hast. Denn wenige Tage später,hast du vor den Augen meiner Mutter, meiner Schwester, und auch vor meinen Kinderaugen Selbstmord begangen, und dir selbst mit einem Messer an deiner Kehle das Leben genommen. Du warst selbst zu schwach, zu kaputt das zu tun, was ich dir versprechen musste. Du hast deinen eigenen Worten keinen glauben geschenkt.
Meine Welt und meine Seele zerbrachen an diesem Tag, und bis ich jemals darüber reden sollte vergingen viele Jahre. Ich hörte auf die Welt mit Kinderaugen zu sehen - der Anblick hatte mich verändert. Meine Kindheit war vorbei - denn jedes, auch das einfältigste Kind wird erwachsen, wenn es erst einmal erkennt was w i r k l i c h e r Schmerz ist.
Ich habe dir dieses Versprechen gegeben. Dir meinem Vater, der mir nichts lies, außer meiner vollkommen kaputten Selbst, deinem Ehering und deinem Lieblingsbuch. Das war alles, was außer der bloßen, für mich heute kaum noch greifbaren Erinnerung. Und eben dieses Versprechen, an dass ich mich viele Jahre nach deinem Tod noch klammere. Ich habe es vielen anderen Menschen versprochen, die mich am Rande des Todes gehsehen haben, die angst hatten ich würde darüber hinaus gehen und dir in die Erlösung folgen. Aber ich wollte ihnen nicht den Schmerz zumuten den zu in meine Seele gebracht hast. Niemand sollte jemals meinetwegen diesen Schmerz verspüren, der in mir niemals erlöschen wird.
Aber was ist ein Versprechen noch wert, wenn man erkennt, dass das alles nur eine Lüge war? Wenn mir im Alter von 16 Jahren aufeinmal brühwarm erzählt wird, dass du nie mein Vater warst, sondern jemand anderes? Jemand, der meiner Seele ebenfalls Schaden zugefügt hat, weil er ebenso depressiv war? Weil er sogar Gewalttätigen gegenüber meiner Mutter wurde? Und mein vertrauen in den Boden schmetterte, weil er sich nicht mehr um mich scherrte, und kein Versprechen dass er mir jemals gab hielt?
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Was ist ein versprechen wert, dass ich einem Menschen gab, der nie das war, was er vorgab zu sein?