Der Kastrat - ein Roman von Richard Harvell
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Inhalt Beginn des 18. Jahrhunderts. Moses Froben, aufgewachsen mit seiner verstoßenen, taubstummen Mutter in einer Kirche, die solch laute Glocken ertönen lässt, dass Jedem, der sie im Umkreis von hundert Metern hört, das Trommelfell reißt, hat ein unfassbar gutes Gehör. Als er langsam den Turm seiner Kindheit verlässt, entdeckt er eine Welt voller Klänge, die ihn gefangen nehmen und nicht mehr loslassen. Er beobachtet das kleine Dorf hoch in den Schweizer Alpen wie ein Schatten, der nicht geduldet wird. Da er das uneheliche Kind des Priesters ist und dieser denkt, dass Moses ebenfalls taubstumm ist, erschrickt der Vater, als er bemerkt, dass sein Sohn sprechen kann und ihn verraten könnte. Also wirft er ihn in einen stürmischen Fluss … Und damit beginnt für Moses mit neun Jahren eine sehr lange Reise. Zwei Mönche retten ihn - Nicolai, ein offener und warmer Mann und der mürrische Remus - die gerade zurück in die Abtei reiten. Sie nehmen ihn mit und Moses entdeckt, geführt von seinem grandiosen Gehör, einen Chor in dem neuen Zuhause. Von seinen Gefühlen überwältigt beginnt er, zu singen - und erweckt dadurch die Aufmerksamkeit von Ulrich, dem Chorleiter. Denn: Moses hat eine engelsgleiche Stimme. Sie berührt den Menschen tief in seinem Innersten. Ulrich beschließt irgendwann aus seiner großen Angst heraus, Moses' Gesang könnte durch die Pubertät verloren gehen, ihn kastrieren zu lassen. Damit beginnt sein Schicksal als Kastrat - und eine Liebesgeschichte ... Meinung Was ich besonders an dem Buch bewundere, ist die Sprache, mit dem der Autor, Richard Harvell, Klänge beschreibt. Er erzählt aus der Sicht von Moses, der 'sich durch die Welt hört' und alle Geräusche natürlich extrem intensiv und klar wahrnimmt. Eine Kritik, die auf dem Titelblatt steht, lautet: "Macht mit den Ohren, was 'Das Parfüm' mit der Nase gemacht hat." Ich kann dem nur voll zustimmen. Es ist beinahe schon Musik, das Buch zu lesen. Allerdings denke ich, dass es nicht für jeden bestimmt ist. Menschen, die sich rein gar nicht mit Musik beschäftigen, werden das Buch langweilig und nichtssagend finden, denn es geht wirklich nur um die wahnsinnige Musikalität Moses', mit der er seine Umgebung wahrnimmt und verarbeitet. Es treten Momente auf, in denen der Autor zu sehr mit Adjektiven und Nomen um sich wirft, um etwas wieder und wieder zu beschreiben. Außerdem ist in dem Buch kein bisschen Spannung enthalten. Da ist auch kein roter Faden. Ein Wort, was oft benutzt wird und mich gestört hat, ist "vollkommen". Es gibt sehr dramatische Situationen, eigentlich immer dann, wenn von Musik erzählt wird, und dort ist schnell alles "vollkommen". Einerseits frage ich mich, was genau überhaupt "vollkommen" bedeutet, andererseits finde ich das Wort zu wertvoll, als dass man es so häufig verwenden dürfte. Zudem fehlte mir die Innenwelt von Moses. Das Buch ist in der Ich-Form geschrieben, und dafür steht definitiv zu wenig über die Emotionen von Moses. Manchmal ist es, als würde er nur beobachten, alles absorbieren, aber sich selbst kaum an dem Geschehen beteiligen - was vielleicht auch daran liegt, dass Moses Froben nicht sonderlich viel redet. Interessant fand ich die Beschreibung von den Kastraten, die in dem Buch auftauchen, denn bisher wusste ich nur wenig darüber. Außerdem ist mir aufgefallen, dass das Buch gut geschichtlich eingeordnet ist und auch die Sprache dem Zeitalter entspricht. Als sehr eindrucksvoll blieb mir die Szene in Erinnerung, als Moses das erste Mal Ulrich vorsang. Am Ende sagte dieser voller Angst "Mein Gott. Ich bin verdammt." Überhaupt ist der Charakter Ulrich überaus faszinierend. Laut Moses' genialem Gehör macht er überhaupt keine Geräusche. Und genau das ist sein Problem: Er kann die Musik, die er hört und verehrt, nicht in sich behalten. Deshalb hat er auch so grausame Angst, Moses würde je wieder aufhören, zu singen. Ebenfalls imponierte mir der mit einfließende, nie aber direkt angesprochene Aspekt, dass ein Kastrat verliebt sein kann. Es ist sogar eine körperliche Liebe, die Amelia und Moses teilen, aber im Gegensatz zu seiner Freundin wird er dadurch nur zum Singen angeregt. Es scheint eine 'reine' Liebe zu sein, bei der ich gespannt gewesen wäre, ob sie gehalten hätte. Vielleicht wäre Amelia irgendwann unzufrieden geworden, weil ihr Freund nicht dasselbe fühlen kann, wie sie. Fazit Ich kann jedem Musiker den Roman nur wärmstens ans Herz legen, damit er den in den Sätzen verborgenen Arien zuhören kann. Es ist eine gute Geschichte für durstige Ohren, denn der Autor führt uns durch eine Welt, in der wir uns nur mit dem Gehör orientieren können und wieder aufmerksam werden für die verschiedenen Klangformen eines Lachens. Ich vergebe 4 von 5 Sternen. |